selbst:bestimmt

In einer Lehrveranstaltung der AAU  beschäftigten wir uns damit, inwieweit sind wir als Menschen noch natürlich,  was ist in der heutigen Zivilisation noch natürlich. Wieweit hat der Mensch die Natur verändert und ist der Mensch Teil der Natur, dann ist letztendlich alles was der Mensch herstellt natürlich. Egal ob es sich dabei um Autos, Megacitystädte oder chemische Waffen handelt. Es gibt dabei den Aspekt, ob wir alles was uns möglich ist auch tun sollen oder uns beschränken sollten. Im Sinne von Giorgio Agamben der meint, dass die größte Freiheit des Menschen darin besteht, etwas nicht zu tun. Vertritt man die Position des Nichtstuns, dann sei dies nicht eine Form der Schwäche, sondern die größte Potenz die dem Menschen zur Verfügung steht. Beim  Aspekt des Nichtstuns kommt man schnell zum persönlichen Bereich, zum eigenen Körper. Muss ich mich dem medizinischen Zwang, den Empfehlungen für die Impfprogramme anschließen? Bei den Volksschulkindern stehen eine Reihe von Impfungen auf den Stundenplan, wozu die Zustimmung der Eltern einholt wird. Wer kann sich dem Kollektiv entziehen und eine Masern- oder Kinderlähmungsimpfung ablehnen. Dabei ist zu bedenken, dass man für ein drittes Wesen entscheidet, dass bei einer Erkrankung die Frage stellen könnte: Warum man der Impfung  nicht zugestimmt hat.

Anders ist die Situation als Erwachsener, dem verschiedene gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen empfohlen werden. Ich meine Behandlungen, welche nicht durch einen akuten Krankheitsausbruch notwendig sind.

Eigennutzen.

affen:grün

Die Haut meiner Finger, welche diese Notizen um zwölf Uhr Mittag auf der Aussichtsplattform des Kunsthauses Graz zu Papier bringen, lässt die Plexiglasfassade leichengrün erscheinen. Keine rötliche Hautfarbe auf den Armen, dafür schalgrün und dazwischen braune Hautflecken. Zum Glück kann ich mein Gesicht nicht sehen, über die Gesichtsfarbe könnte ich mich zu Tode erschrecken. Die schwarzen Schuhe schimmern grünlich und das Hemd ist grünblau. Das Wasser der Mur erscheint beim Blick durch die Fassade schwarz. Von der Glasfassade perlen die Regentropfen ab. Meine hellrote Jacke ist dunkelrot. Die Finger sind abgemagert, in die Länge gezerrt, um Jahrzehnte gealtert. Die Handballen zeichnen sich als schwarze Totenflecken ab, die Lebenslinien als tiefe Schluchten.

Die Fassade ist für die Gorillaausstellung in grünes Licht getaucht. Im Video bewegt sich der Gorilla auf einem Ast in Echtzeit. Es sieht so aus, als sitze ich auf einem Ast und gebe mich einen Tag lang dem Nichtstun hin. Dem Beobachten und beobachtet werden.

Leichenschau.

aus:radiert IV

Über die Vorhaben liegt ein Schleier wie im November, die Ungewissheit drückt auf das Gemüt. Langjährige Rentner geben Einblick in das Rentnerparadies, wobei Fernreisen und das Überwintern auf einer Insel im Süden eine gut dotierte Rente voraussetzen. Die anderen suchen um einen Zuschuss zu einem Kuraufenthalt an, anstatt eine Weltreise zu buchen. Sie  müssen jeden Termin akzeptieren, weil sie Zeit haben. Ihr Alltag besteht darin, dass sie halbe Tage in den Wartezimmern der Fachärzte verbringen. Mit dem Schritt vom Arbeitsleben in den Ruhestand beginnt ein neuer Lebensabschnitt, wenn  dieser Wechsel radikal durchführt wird und keine Hintertür offen bleibt. Man beginnt die letzten Jahrzehnte zu beurteilen, eine Bilanz zu erstellen. Die Ärgernisse während des Berufslebens vergisst man schnell, man übt sich in Nachsicht. Das Leben wird auf den Kopf gestellt, seit der Geburt ist es bergauf gegangen, mit Beginn der Pension geht es bergab. 

Die Generation sechzig plus wird heftig umworben:  Vom Lebensmittelhandel mit light Käsesorten, von den Drogeriemärkten mit Nahrungsergänzungsmitteln, von den Apotheken mit Vitamintabletten, von den Volkshochschulen mit Computerkursen für Einsteiger und von den Fitnesscentern mit  schonender Wirbelsäulengymnastik. Die Reisebüros  bieten spezielle Tagesausflüge und Kurzurlaube für ältere Menschen an. Wohlgesinnte und doch etwas neidische Freunde versorgen sie mit Reiseprospekten, sowie einem Zehnerblock für den Besuch des Thermalbades. Nach dem Motto: Am Wochenende in das Bad und monatlich einen Busausflug. Tagesausflüge sind beliebt, weil sie preiswert  und bei der Busfahrt ein Mittagessen und eine Kaffeepause inkludiert sind. Den meisten Senioren ist dabei die Geselligkeit wichtig und das sie zu Mittag zwischen drei Menüs wählen können. Gibt es dazu Musik mit der Ziehharmonika,  steigt die Stimmung. Dazwischen steht die Besichtigung eines Heldendenkmal, eines Wasserfalles oder einer Kirche am Programm. Der  Vorteil ist, dass der  Bus nahe an die Sehenswürdigkeiten heranfahren kann und die Reisenden brauchen nicht weit zu laufen. Sorgt der  Buschauffeur auf  der Heimfahrt für heitere Stimmung, dann gibt es am Ende der Fahrt reichlich Trinkgeld.

Vom  Abschied nehmen berichten viele Lieder und Gedichte. Zuerst denkt man an den  Abschied von einem verstorbenen Menschen. Dieser Abschied ist ein Schnitt in das Herz, der eine Narbe hinterlässt. Das Blut fließt nicht mehr frei, von daher kommen die Schmerzen im Brustbein. Die Beschwerden richten sich danach  wie nahe man dem Menschen gestanden ist.  Ein Weggang ist,  wenn man  aus seiner Wohnung, von seinem Ort, aus dem Tal  wo man jahrelang gelebt hat, wegzieht.  Einen Berggipfel, eine Felswand,  auf die man täglich geschaut hat, verlässt. Der Dobratsch  wechselte mit den Tages- und den Jahreszeiten seine Farbe.  Beim Blick auf die  “Rote Wand” habe ich in ihr oft etwas Neues entdeckt. Der Berg hat mich getröstet,  hat mir Ratschläge gegeben und hat mir Ruhe geschenkt. Er hat mir zugeflüstert:  „Auf diesen Felsen kannst du dein Leben bauen“.

aus:radiert III

Eine häufige Tätigkeit ist, sich irgendwo an- und abzumelden, das Ausfüllen von Formularen. Es beginnt in der Kindheit, mit dem Anmelden zum Kindergarten, zum Schulbesuch, zum Flötenkurs und zum Sportverein. In den folgenden Jahren wird es nicht besser, es müssen das Auto, der Fernseher, das Studium, ein Wohnungswechsel an- und abgemeldet werden. Das Vorstellungsgespräch und der Arztbesuch erfordern eine Terminvereinbarung. Der erste Schritt in die Selbstständigkeit ist das Anmelden des Gewerbes. Nach den Reformen der Gewerbeordnung ist heute der Erwerb des Handelsgewerbes, von fast allen Bedingungen befreit. Vor Jahrzehnten gab es dafür noch bestimmte Voraussetzungen, wie den Befähigungsnachweis. Heute sind fast alle Hüllen, Pardon, Hürden gefallen. Bei Antritt der Pension muss man sein Gewerbe zurückzulegen.  Ich nahm meine reich verzierten Gewerbescheine und fuhr zur Bezirkshauptmannschaft. Die erste Frage der Beamtin war, „wollen sie das Gewerbe ruhend stellen oder wollen sie es abmelden“? Letzteres ist eine Entscheidung  die man nicht rückgängig machen kann. Der logische Schritt war die Gewerbelöschung. Im kleinen Büro haben sich die Akte am Tisch und auf den Sesseln gestapelt, zum Niedersitzen war kein Platz fei. Aus einer der Schubladen wurde  ein Abmeldeformular hervorgezaubert. Mit meiner Unterschrift war die Löschung des Gewerbes vollzogen, das Formular verschwand im Aktenberg. Ich erwartete von der Beamtin ein mitfühlendes Wort, nichts geschah. Das Herzklopfen, die Abschiedsträne wurden für später aufgehoben. Der Bescheid über die Zurücklegung des Gewerbes wurde per Email zugesandt, kein Schriftstück.

Mit dem Wort „ausradiert“ verbinden wir verschiedene Vorstellungen. Am häufigsten denken wir dabei, dass ein falsch geschriebenes Wort ausradiert wird. Vor Jahrzehnten gab es zum Ausradieren nur den rotblauen Radiergummi aus Kautschuk, später die Plastikradiergummis. Bei den elektronischen Schreibmaschinen konnte man die Fehler mit Hilfe eines Korrekturbandes ausbessern. Heute gibt es am Computer den „virtuellen Radiergummi“, es ist noch nie so einfach gewesen Fehler zu beseitigen. Das Wort „ausradiert“ benützen die Medien bei Katastrophen, wie Lawinenabgang, Tsunami oder Erdbeben, wenn dabei ganze Familien umkommen oder ein ganzer Ort zerstört wird. Eine Familie, ein Ort wurden für alle Zeiten ausradiert. Wir zeigen  Betroffenheit, soweit wir bei der Fülle von Katastrophen die aus den Zeitungen, dem Fernseher und dem Internet in das Wohnzimmer schwappen, dazu noch Zeit und Mitgefühl haben. Nach vierzig Jahren wurde der Firmenname auf der Hausfassade übermalt, er wurde mit Farbe und Pinsel „ausradiert“.

Kommt der letzte Arbeitstag wissen viele nicht was sie in der arbeitsfreien Zeit erwartet. Von einem Tag auf den Anderen befindet man sich in der Alterspension, nicht in einer Fremdenpension. Früher gab es den Begriff, “man geht in die Rente”, dies war ein Hinweis auf einen langsamen Übergang. Einen Tag ohne regelmäßige Arbeitszeit kann man sich schwer vorstellen. Man tastet sich im Dunkeln vorwärts, bis Licht in den Alltag kommen wird. Manche haben vage Vorstellungen, wie Zeitungsausschnitte und Schriftstücke zu ordnen oder die Foto- und die Büchersammlung zu katalogisieren. Der Jahreszeit entsprechend im Garten oder am Balkon Sträucher und Blumen zu pflanzen, Reparaturen in der Wohnung durchzuführen und im Kellerabteil aufzuräumen.

Andere wollen ihren erlernten Beruf in geringem Umfang weiter ausüben. Dies trifft auf Handwerker, wie Tischler, Installateur oder Maler zu, ein guter Handwerker ist immer gefragt. Scheiden sie aus dem Arbeitsleben aus, warten schon Verwandte und Bekannte, dass sie ihnen bei der Wohnungsrenovierung oder beim Bau eines Eigenheimes helfen werden. Die Errichtung eines Einfamilienhauses wird manchmal erst dadurch möglich, wenn Rentner freiwillig mitarbeiten. Die erste Generation der pensionierten Computerfachleute ist bei der Erstellung einer Vereinshomepage gefragt. Kaum Verwendung gibt es für Verkäufer und Bankangestellte im Ruhestand. Sie können als Laienschauspieler und in der Altenbetreuung eine neue Aufgabe finden.

aus:radiert II

Was ich in der Pension machen werde, war die häufigste Frage die mir gestellt wurde. Für die Zeitspanne, in der ich noch im Betrieb war und Stück für Stück loslassen musste, interessierte sich niemand. Wer in Rente geht sollte einen großen Schritt machen und Ballast abwerfen. Viele Prospekte wurden deshalb aufbewahrt, weil es einmal eine Anfrage von einer Kundschaft geben könnte, wo diese Unterlagen gebraucht werden. Als ich damit begonnen habe Prospekte auszusortieren und wegzuwerfen verspürte ich eine große Erleichterung. Eine Entlastung die nicht nur im Kopf, sondern auch körperlich zu spüren war. Nicht jeder Tag war für das Aussortieren, für das Loslassen, gleichermaßen geeignet. Es hat Tage gegeben, wo es mich gedrängt hat, unnötiges wegzuwerfen. Mit  dieser Freude sollte man auch im privaten Bereich fortfahren, wenn die Zeit kommt im Privatarchiv Ordnung zu schaffen.  Die künftigen Unternehmer werden nicht mehr so viele Prospekte sammeln, weil sie lieber im Internet die Firmenhomepage besuchen. Bin ich im leergeräumten Magazin gestanden, war mir bewusst, dass ich hier nichts mehr zu sagen habe. Ich musste etwas auslassen, an dem ich mich bisher festgehalten habe. Noch wusste ich nicht, wo ich mich in  Zukunft festhalten werde.

Im Bekanntenkreis war es eher selten, dass jemand für seinen Betrieb einen Nachfolger gefunden hat. Niemand hat mich danach gefragt wie dieser Prozess abläuft.  Welche  Schritte gesetzt werden müssen, wo es Reibungspunkte und Hindernisse gibt. Viele glauben dies verläuft so ähnlich, als wenn jemand seinen Job in einer Autowerkstatt, einer Bankfiliale oder in einem Tischlereibetrieb aufgibt. Niemand kennt die Beschwerden die auftreten, wenn alles vom Betrieb offengelegt werden muss. Von einem Tag auf den Nächsten vom Nachfolger benützt wird, es schläft  am Morgen jemand anderer in meinem Bett.

Der Tag der Betriebsübergabe rückte näher, so wurden viele Arbeiten zum Letzten mal durchgeführt, wie die Bestellung von Notizbüchern. Verkaufte ich ein  Hochzeitsalbum, dann wusste ich, dies wird das letzte Album sein, das ich verkaufe. Manche Kunden haben sich schon Monate vorher  verabschiedet, weil sie nicht wussten, ob dies schon ihr letzter Einkauf war. Letztmalig besuchte ich Kunden und nahm an einer Sitzung der Fachvertretung teil. Das Prinzenpaar bedauerte es, dass es von zum Letzten mal  zu einem Glas Sekt eingeladen wurde. Die Burschenschaft gebrauchte das Wort letztmalig, um eine Spende  zu erhalten, sie wollte letztmalig nicht auf zwanzig Euro verzichten.

Zu Recht sagt man von den kleinen Handwerkern  und Händlern, dass sie mit Herz und Seele bei der Sache sind. Schließt ein Betrieb, dies kann eine Drogerie, ein Schuhmacher  oder ein Textilgeschäft sein, so bedeutet dies für den Inhaber,  dass damit sein zweites Herz geschlossen wird.  In dieser Phase muss man aufpassen, dass es nicht zu Herzrhythmusstörungen kommt. Man wird von der Verkaufsbühne in die Requisitenkammer abgeschoben. Dort findet man sich bei der Garderobe der vergangenen Jahre wieder. Jetzt hat man Zeit zum Archivieren und von der Vergangenheit zu träumen. Welche Rollen man  gespielt hat, in welche Rollen man geschlüpft ist und wie viel Applaus man dafür bekommen hat. Auf der Straße kommt es noch zu Begegnungen, wo man in seiner alten Rolle erkannt wird. Den Text von früher kann man noch auswendig, aber man hat nicht mehr den Elan.  Das Publikum war früher ein größeres, jetzt sind es Einzelne. Dazu kommen die Zwischenrufe, dass der / die Neue die Rolle nicht so gut spielt. Früher war es besser, aber dies war schon immer so. So trägt man eine zweifache Last, dass man von der Bühne abgeschoben wurde und dass man mit den Schwächen der Nachfolger konfrontiert wird. Man wird zum Eingreifen aufgefordert, dabei wird übersehen, dass man nicht mehr vor Publikum auftritt, sondern in der Requisitenkammer die alten Kostüme hegt und pflegt.