urban:VI

Vor Urban liegt auf dem Tisch das Formular einer Behörde. Urban hat das Formular mit seinem Namen versehen. Der Name umfasst seine Person. Für die Behörde ist Urban ein Name, der sich in Buchstaben ausdrücken lässt. Urban fühlt sich als eine aneinandergereihte Anzahl verschiedener Buchstaben. Er könnte den Idealzustand seiner Gefühle in der Aneinanderreihung von Buchstaben sehen. Urban ist bemüht, bei Niederschrift seiner Wahrnehmungen vom Spaziergang die Wahrnehmungen des ersten Spazierganges vom ersten Mai und die Wahrnehmungen des Spazierganges vom darauffolgenden Tag zu trennen. Der Spaziergang des darauffolgenden Tages führte denselben Weg entlang. Nachdem er die tiefere Schicht seiner Erinnerungen freigelegt hat, wendet er sich den darüber geschichteten Erinnerungen zu. Ähnlich wie bei Bildern nur alle Farbschichten gemeinsam ein Bild ergeben, sind es in seinem Fall beide Erinnerungen, zusammengefasst zu einer Erinnerung. 

Das Gefühl, an welches sich Urban erinnerte, als er am nächsten Tag wieder den Staudamm entlang ging, war angenehm. In dieses angenehme Gefühl fiel ein Schuss von der gegenüberliegenden Bergseite. Er konnte räumlich nicht an den Auslöser des Schusses herankommen. Urban ließ seine Vorstellung von einem Jäger in sich breit werden. In einer auf Holzpfosten errichteten Bretterhütte dämmerte ein unausgeschlafener Jäger dem Mittag entgegen. Er hatte die Büchse auf seinen Füßen liegen. Unaufmerksam beobachtete er das Bild des Waldes, wie es ihm seine Augen vermittelten. So gesehen war aus der Sicht eines Jägers nichts bemerkenswertes zu beobachten. Seine Anwesenheit wurde durch nichts gerechtfertigt. Ungewollt löste sich ein Schuss aus seinem Gewehr. Der Jäger verspürte in sich Genugtuung, da durch den Schuss seine Anwesenheit gerechtfertigt wurde. 

Eine weitere Wirklichkeit kam aus Urbans Gehör, ein Surren und Metallklirren. Diese beiden Geräusche wurden von Urban einem Radfahrer zugeordnet. Das Geräusch, welches von rückwärts in sein Gehör und weiter in sein Bewusstsein drang, erlaubte es ihm noch nicht, den Radfahrer als Mann, Frau oder Kind zu bezeichnen. Diese Wahrnehmung von Einzelgeräuschen war vorherrschend. Urban vernimmt in der Erinnerung nicht die Summe von Vogelgesang, sondern die Stimme eines Vogels. Nach dem Metallklirren der Radfahrerin, die in der Senke verschwunden war, wurde Urban zum Beobachter eines Vorganges, der einen Teil seiner Person betraf, aber jetzt mit ihm nichts mehr zu tun hat. Verzückt folgte Urban entlang des Staudammes einem metallischem Klicken und sah sich plötzlich vor dem Kraftwerk stehen. Das Wasser wurde vom Kraftwerk hineingezogen und dabei ertönte in kurzen Abständen das Klicken. Jetzt glaubt Urban, dass das metallische Klicken davon herrührt, dass kleine Steine oder Gegenstände, welche das Wasser mitführte , irgendwo an Metall schlugen. Urban konnte beobachten, wie dieses Geräusch auf ihn eine mit seinen Erfahrungswerten nicht mehr auszudrückende Anziehungskraft ausübte. Als von der Flussseite Kinderstimmen hörbar wurden, war es ihm unmöglich, sich selbst weiter zu beobachten. Durch die Kinderstimmen erlangte er den Zugang zur Realität, die er zu überschreiten versucht hatte, und das metallische Klicken verlor seine Anziehungskraft. Urban ging den Staudamm entlang. 

Beim Betätigen des Gaspedals verspürte er den ganzen Motor, in empfindsamen Momenten das fahrende Auto als Ganzes, so wie ein Schmerz, hervorgerufen durch einen zu eng geschnürten Schuh, ihn zur Wahrnehmung seines Fußes führt. Sein Fuß ist nur im Schmerz spürbar.  

Das Geräusch kam den Staudamm entlang und brauste über ihn hinweg. Aus seiner Erinnerung erkannte Urban das Geräusch als Bahngeräusch. Urban hatte bei Beginn des Spazierganges daran gedacht, nach dem Spaziergang das Mittagessen einzunehmen. Sonntags gab es im Gasthaus, wo er seine Mahlzeit einnahm Wienerschnitzel. Der Sonntag wurde für Urban zu einem guten oder schlechten Sonntag, je nach der Größe des Wienerschnitzels. War es ein großes Wienerschnitzel, so war es ein schöner Sonntag, war das Wienerschnitzel weniger groß, so war es trotzdem noch ein Sonntag und kein gewöhnlicher Wochentag. An einem Wochentag musste Urban arbeiten, es gab aber trotzdem kein Wienerschnitzel. Waren früher der Kirchgang, nach dem Kirchgang der Gasthausbesuch, nach dem Gasthausbesuch das gute Mittagessen und nach dem guten Mittagessen der arbeitsfreie Nachmittag die Merkmale die einen Sonntag als Sonntag kennzeichneten, so war bei Vielen von all diesen Merkmalen nur mehr das gute Mittagessen geblieben. Für Urban zusätzlich entscheidend die Größe  des Wienerschnitzel. So bedeutete ein großes Wienerschnitzel einen zufriedenen Sonntag. Ein großes Wienerschnitzel war die Garantie für einen guten Sonntag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert