suizid:todsünde II

An einem Abend vor einem Feiertag bin ich mit dem Intercity Zug von Klagenfurt nach Spittal/Drau unterwegs um das verlängerte Wochenende bei meiner Mutti zu verbringen. Der Waggon ist gering besetzt, auf der anderen Gangseite sitzt eine ältere Frau mit ihrem Enkel und erklärt ihm die Tiere im Bilderbuch. Ich lese im Buch “Verdrängen und Heilen”, Aufsätze zur Psychoanalyse, von Georg Groddeck und blicke zwischendurch auf den vorbeihuschenden Wörthersee. In Velden steigt eine junge Frau mit einer Reisetasche in den Waggon ein, eine Kurzurlauberin, denke ich. Sie blickt mich kurz an und lässt sich dann gegenüber von der Frau mit dem Enkel auf die Bank  fallen. Der Zug beschleunigt gerade, da spricht die junge Frau die Oma an.  Wie ein Dampfkessel der unter Druck steht, redet die junge Frau auf die ältere Frau ein und klagt ihr Leid: “Ich bin so niedergeschlagen, mich plagen so viele Ängste. Ich fürchte mich vor dem morgigen Tag, vor den nächsten Wochen und ich weis nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Mein Freund hat mich vor drei Monaten verlassen, ein anderer Freund ist aus dem Fenster im dritten Stock in den Tod gesprungen und die beste Freundin ist vor kurzem an Brustkrebs gestorben. Diese Schicksalsschläge waren zu viel für mich, diese haben bei mir eine Depression ausgelöst. Die Therapie bei einem Psychologen hat bis jetzt nichts genützt. In meiner schlechten seelischen Verfassung  finde ich auch keinen Arbeitsplatz, es will mich niemand einstellen. Niemand kann mir wirklich helfen. Wenn ich in Schwarzach/St. Veit ankomme, dann mache ich Schluss, ich werfe mich heute vor ein Auto.“ Die ältere Frau hat ihr aufmerksam zugehört, versucht auf sie einzugehen und sie zu beruhigen: „Vielleicht können die Eltern oder die Geschwister etwas für sie tun. Denken sie an die möglichen gesundheitlichen Folgen bei einem Selbstmordversuch und welchen Schock dies beim schuldlosen Autofahrer auslösen kann. In ein paar Wochen kann sich ihre Situation geändert haben und sie werden wieder an etwas Freude finden.“ Ich kenne diese seelischen Abgründe und weis, wie unzugänglich Menschen in solchen Situationen für gute Ratschläge sind. Sie leben in einem abgeschlossenen Universum, wo sie nichts an sich heranlassen. Der Zug nähert sich Spittal/ Drau und ich bereite mich zum Aussteigen vor. Dabei ruft mir die junge Frau zu: „Beten sie für mich, beten sie für mich“. Vor dem Bahnhof erwartet mich meine Mutti und als erstes erzähle ich ihr von der verzweifelten Frau. Die Mutti sagt: „Lass uns nach Hause gehen und eine Tasse Tee trinken“.

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