urban:I – X

Urban versucht in seiner Erinnerung jenen Moment während des Spazierganges zu ermitteln, in dem er das Bedürfnis verspürt hatte, seine Beobachtungen in seinem Gedächtnis festzuhalten, um sie nach Beendigung des Spazierganges niederzuschreiben. Das Bedürfnis seine Beobachtungen festzuhalten hatte er in jenem Moment, als er daran dachte, schneller zu gehen. Obwohl er sich zu jenem Zeitpunkt vorgenommen hatte schneller zu gehen, ging er langsam weiter. War dies  die Folge der natürlichen Angst, etwas neues zu beginnen?

 Zuerst ist die Angst, die Angst, irgendetwas zu versäumen, etwas zu verlieren, die Angst, irgendetwas nicht zu wissen. Ein Spaziergang ist die Angst, die Angst bei Beginn eines Spazierganges, die Angst vor dem Ende eines Spazierganges. Zwischen dem Anfang und dem Ende ist die Zwischenangst.

So findet  er in jenem Moment seines Spazierganges zwei widersprüchliche Gefühle in sich, das eine mal das Verlangen seine Gedanken aufzuschreiben und um dieses Verlangen zu verwirklichen, das Bedürfnis, schneller zu gehen und das Andere mal das Gefühl der Angst, etwas neues zu beginnen. Urban fragt sich, welches Ereignis er als Ausgangspunkt für den Anfang seiner  Beobachtung nehmen könnte?  Da gäbe es eine Möglichkeit als Anhaltspunkt den Mopedfahrer zu wählen, der an ihm vorübergefahren war. Er hätte den Mopedfahrer nicht bewusst wahrgenommen, wenn nicht auf dem Gepäcksträger des einsitzigen Mopeds ein junges Mädchen gesessen wäre, was ja verboten ist. Verbote sind das erste was in sein Bewusstsein dringt. Dann hatte er den Futterplatz für die Wildfütterung gesehen, obwohl er schon einmal an dieser Stelle vorübergegangen war, ohne jedoch den  Futterplatz  gesehen zu haben. Dieses eine mal  hatte er vom Futterplatz keine Kenntnis genommen, da er den Futterplatz nicht zur Kenntnis nehmen wollte. 

Jetzt ist Urban daran, Beobachtungen zu sammeln, die er als Stufen für seine Erinnerungen benützen kann. Urban sieht während der Niederschrift seiner Erinnerungen aus dem Zimmerfenster und  bemerkt im Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes zwei Autos, die vor seinem Fenster parkten. Eines der Autos erkennt er im gegenüberliegendem Fenster als ein neues Auto. Das Auto, welches die Besucher des Wohnungsnachbarn ansonsten immer benützt hatten, ist ein grünes Auto, heute ist es orange. Das es ein neues Auto ist kann  er aus den vielen um das orange Auto herumstehenden  Leuten, die sich im Fenster spiegeln, schließen. Nur ein neues Auto erfährt soviel  Bewunderung. Urbans Schlussfolgerungen stützen sich auf die Erinnerungen seiner Erfahrungen. Durch die dicke Steinmauer und die doppelten Fenstern vernimmt er in seinem Zimmer die Geräusche eines wegfahrenden Autos. Er glaubt deshalb die Geräusche eines wegfahrenden Autos zu hören, weil er im Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes beobachten kann, wie die Besucher mit dem orange Auto abreisen. Er ist der Meinung, dass die Geräusche die Geräusche eines wegfahrenden Autos gewesen sind. Urban sieht, dass die gegenüberliegende Fensterscheibe leer ist, so wird auch der Platz vor seinem Fenster leer sein. Er ist weiter auf der Suche nach frühen Anhaltspunkten für das bewusste Einsetzen seiner Beobachtungen während des Spazierganges. Ihm wurde beim Anhalten mit dem Auto in der Schütt bewusst, dass er mit dem Auto gefahren war. Beim Wegfahren hatte er im Rückspiegel seines Autos den alten Mann das Holz zerkleinern gesehen. Urban fragt sich, ob diese Begebenheiten Erinnerungen an seinen Spaziergang sind oder neue  Wahrnehmungen, die er bei  Beginn des  Spazierganges nicht wahrgenommen hat, die ihm aber jetzt bewusst werden, da er zurückdenkt. Von jetzt an verzichtet er, seine Gedanken als Erinnerungen zu betrachten. Ohne, dass er beim Spaziergang etwas gemerkt hätte, ist er jetzt davon überzeugt, dass er im Mischwald einen roten Fleck gesehen hat, ein Teil eines ihm jetzt noch unbekannten Gegenstandes. Um zu dem Gegenstand vorzustoßen und den Gegenstand mit einem Namen zu benennen, lässt Urban im Geiste Gegenstände vor seinen Augen vorbeiziehen, zu denen rot passen würde und die andererseits mit großer Wahrscheinlichkeit in der Schütt vorkommen könnten. Ein roter Ball, ein rotes Papier, ein roter Hut, ein rotes Kleid, ein rotes Auto ? Urban ist jetzt überzeugt, dass es ein rotes Auto gewesen ist. Wenn er diesen roten Fleck gesehen hat, so ist dies ein rotes Auto gewesen. Dieses Erholungsgebiet ist dafür bekannt, dass am Sonntag viele Familien mit dem Auto dort hinfahren und  einen längeren Spaziergang unternehmen. Dies wäre eine ordentliche und bürgerliche Erklärung für den roten Fleck. Urban geht es aber darum, nachdem er das Rot als Auto definiert hat, weitere Schlussfolgerungen, die sich aus rot und Auto in ihm aufdrängen, zu fassen. Rot und Auto führen Urban zum für ihn nächstliegenden Reizwort, Liebe. Liebe identifiziert er mit rot, aber Liebe ist für sich allein isoliert, so nimmt er als Folge von Rot,  Auto, von Rot und Auto , Liebe. Von Rot, Auto und Liebe als Bezugsperson Mädchen. Aus diesem wahrscheinlich nur gedachten Fleck hat sich für Urban eine ganz konkrete Situation entwickelt, Auto, Liebe und Mädchen. 

 Urban muss seine Schlussfolgerungen unterbrechen, ihn ihm entsteht das Bedürfnis, die Tageszeitung anzusehen.  Da ist wieder die Angst, durch diese Ablenkung seine Erinnerungen zu verlieren, deshalb blättert er nicht in der Tageszeitung und sieht nicht zum Fenster hinaus. Er richtet seinen blick nach Innen. Den Blick seiner Augen lässt er in das Zimmer zurückgleiten, dabei verfängt er sich auf dem Bildschirm seines Fernsehapparates. Darin sieht er sich jetzt selbst. Urban betrachtet dies als eine Möglichkeit, sich näher zu kommen. Auf dem Bildschirm, wo er ansonsten andere, ihm fremde Dinge miterleben konnte, kann er sich selbst beobachten und stellt fest, dass er sich fremd ist, wie ihm auch anderes  im Fernsehen fremd war. Obwohl Urban diesen Gedanken verdrängen möchte, denkt er daran, in Zukunft anstatt den Fernseher einzuschalten und das Fernsehprogramm anzusehen, sich selbst im Bildschirm beobachten zu können. Vielleicht läge für ihn darin eine Möglichkeit, seiner Person näher zukommen. 

Eine für ihn neue Variante seiner Wahrnehmung beim Spaziergang war der Hase. Auf dem etwas erhöhtem, asphaltierten Weg entlang des Staudammes sah er während des Gehen einen Hasen. Es war für ihn unmöglich daran zu glauben, dass es ein lebender Hase war, weil er von den Erzählungen der Spaziergänger wusste, dass durch den Bau einer Pipeline  und den Bau einer Autobahn der gesamte Hasenbestand aus diesem Gebiet vertrieben worden war. Dieses Vorwissen veranlasste Urban, seinen  Erinnerungen an den Hasen zu misstrauen. Nach dem friedlichen, aber unwahren Bild des Hasen taucht aus dem Bewusstsein der Erinnerungen ein grelles Bild auf, die Schreie des jungen Mädchens auf dem Gepäcksträger des einsitzigen Mopeds. Waren es die Schreie der in einem Nachbarort von ihrem Vater geschändeten Mädchen, die durch dieses Mädchen in die Öffentlichkeit gelangten? Woran erkennt man geschändete Mädchen? War das Sitzen auf dem Gepäcksträger eines einsitzigen Mopeds ein Zeichen von Schande? Die Schreie bringt Urban in Zusammenhang mit den Schlaglöchern in der Schotterstrasse, welche in den letzten Tage vom Regen ausgewaschen worden waren.

 In Urban sind plötzlich Gedanken an das Bundesheer, Erinnerungen an größere Märsche. Diesen Vergleich findet er absonderlich.  Ein Marsch beim Bundesheer hat keine Ähnlichkeit mit einem Spaziergang. Urban bricht diese Erinnerungen ab. Dies ist ein Aufstand  seiner eigenen Gedanken, der sich gegen ihn richtet.  Er war  den Staudamm entlang gegangen, kann sich nicht erinnern, dass er das Rauschen des fließenden Wassers gehört hätte.  Das Rauschen des Windes ist in seinen Erinnerungen vorhanden. Der Wind ist sehr kräftig gewesen. Auch an anderen Tagen war der Wind sehr kräftig, und Urban hatte das Rauschen des Wassers gehört. Jedes mal, wenn er stehen geblieben war, hat er auf das ruhig dahinfließende Wasser geblickt. Urban beginnt seine Bewusstseinsbilder  zu analysieren. Es war ein optisch ruhig fließendes Wasser, dass ist es also, er hatte nur dann die Geräusche des fließenden Wassers gehört, wenn, wie bei seinen früheren Spaziergängen war,  sich im fließenden Wasser Wirbel und Strudel gebildet hatten. Das Bild des optisch ruhig fließenden Wassers hatte in seinem Gehör keine Geräusche ausgelöst. Beim Einsteigen in das Auto hatte er sich gefragt, woher er kommt: aus sich selbst, oder ist er das Produkt seiner Umwelt? 

Manchmal nahm er Teile seines Körpers bewusst wahr. Am Morgen hatte er nach dem Zähneputzen sein Zahnfleisch kontrolliert, ob es fest geworden war. Seit einigen Monaten nahm er täglich einen Löffel Levolac zur Festigung seines Zahnfleisches. Er fragte sich, ob sein Zahnfleisch die Härte einer Betonmauer, die eines Baumes erreichen könne oder ob dieser Vorgang mit einem Zahnfleischfest enden werde: ein Fest wie es der erste Mai gewesen ist, an dem er diesen Spaziergang gemacht hatte. Der erste Mai, da müssten doch die Häuser beflaggt gewesen sein. Er fährt in Gedanken den weg zurück. Beim gedanklichen Vorüberfahren an den Häusern, die längs des Weges in die Schütt standen, ist es ihm unmöglich, eines der Häuser als beflaggt zu erkennen. In Gedanken fährt urban in das Waldstück, da erinnert er sich an die rot-weiß-rote Fahne an dem Kraftwerk. Obwohl Urban den Zeitpunkt, an dem er heute morgen wach wurde, nicht genau weiß, kann er diesen Zeitpunkt als sicher annehmen, er kann ihn sogar zeitlich einreihen, es muss vor dem Zähneputzen gewesen sein. Urban wüsste gerne, über welche frage er während der vergangenen Nacht beim Schlafen nachdachte. Denken ist für ihn nicht nur während des Wachzustand möglich. Wenn Denken während des Schlafens möglich war, so hatte er bestimmt auch Bilder gesehen. Er möchte seine Traumbilder näher beschreiben können. 

Vor Urban liegt auf dem Tisch das Formular einer Behörde. Urban hat das Formular mit seinem Namen versehen. Der Name umfasst seine Person. Für die Behörde ist Urban ein Name, der sich in Buchstaben ausdrücken lässt. Urban fühlt sich als eine aneinandergereihte Anzahl verschiedener Buchstaben. Er könnte den Idealzustand seiner Gefühle in der Aneinanderreihung von Buchstaben sehen. Urban ist bemüht, bei Niederschrift seiner Wahrnehmungen vom Spaziergang die Wahrnehmungen des ersten Spazierganges vom ersten Mai und die Wahrnehmungen des Spazierganges vom darauffolgenden Tag zu trennen. Der Spaziergang des darauffolgenden Tages führte denselben Weg entlang. Nachdem er die tiefere Schicht seiner Erinnerungen freigelegt hat, wendet er sich den darüber geschichteten Erinnerungen zu. Ähnlich wie bei Bildern nur alle Farbschichten gemeinsam ein Bild ergeben, sind es in seinem Fall beide Erinnerungen, zusammengefasst zu einer Erinnerung.

Das Gefühl, an welches sich Urban erinnerte, als er am nächsten Tag wieder den Staudamm entlang ging, war angenehm. In dieses angenehme Gefühl fiel ein Schuss von der gegenüberliegenden Bergseite. Er konnte räumlich nicht an den Auslöser des Schusses herankommen. Urban ließ seine Vorstellung von einem Jäger in sich breit werden. In einer auf Holzpfosten errichteten Bretterhütte dämmerte ein unausgeschlafener Jäger dem Mittag entgegen. Er hatte die Büchse auf seinen Füßen liegen. Unaufmerksam beobachtete er das Bild des Waldes, wie es ihm seine Augen vermittelten. So gesehen war aus der Sicht eines Jägers nichts bemerkenswertes zu beobachten. Seine Anwesenheit wurde durch nichts gerechtfertigt. Ungewollt löste sich ein Schuss aus seinem Gewehr. Der Jäger verspürte in sich Genugtuung, da durch den Schuss seine Anwesenheit gerechtfertigt wurde. 

Eine weitere Wirklichkeit kam aus Urbans Gehör, ein Surren und Metallklirren. Diese beiden Geräusche wurden von Urban einem Radfahrer zugeordnet. Das Geräusch, welches von rückwärts in sein Gehör und weiter in sein Bewusstsein drang, erlaubte es ihm noch nicht, den Radfahrer als Mann, Frau oder Kind zu bezeichnen. Diese Wahrnehmung von Einzelgeräuschen war vorherrschend. Urban vernimmt in der Erinnerung nicht die Summe von Vogelgesang, sondern die Stimme eines Vogels. 

Nach dem Metallklirren der Radfahrerin, die in der Senke verschwunden war, wurde Urban zum Beobachter eines Vorganges, der einen Teil seiner Person betraf, aber jetzt mit ihm nichts mehr zu tun hat. Verzückt folgte Urban entlang des Staudammes einem metallischem Klicken und sah sich plötzlich vor dem Kraftwerk stehen. Das Wasser wurde vom Kraftwerk hineingezogen und dabei ertönte in kurzen Abständen das Klicken. Jetzt glaubt Urban, dass das metallische Klicken davon herrührt, dass kleine Steine oder Gegenstände, welche das Wasser mitführte , irgendwo an Metall schlugen. Urban konnte beobachten, wie dieses Geräusch auf ihn eine mit seinen Erfahrungswerten nicht mehr auszudrückende Anziehungskraft ausübte. 

Als von der Flussseite Kinderstimmen hörbar wurden, war es ihm unmöglich, sich selbst weiter zu beobachten. Durch die Kinderstimmen erlangte er den Zugang zur Realität, die er zu überschreiten versucht hatte, und das metallische Klicken verlor seine Anziehungskraft. Urban ging den Staudamm entlang. Beim Betätigen des Gaspedals verspürte er den ganzen Motor, in empfindsamen Momenten das fahrende Auto als Ganzes, so wie ein Schmerz, hervorgerufen durch einen zu eng geschnürten Schuh, ihn zur Wahrnehmung seines Fußes führt. Sein Fuß ist nur im Schmerz spürbar.  

Das Geräusch kam den Staudamm entlang und brauste über ihn hinweg. Aus seiner Erinnerung erkannte Urban das Geräusch als Bahngeräusch. Urban hatte bei Beginn des Spazierganges daran gedacht, nach dem Spaziergang das Mittagessen einzunehmen. Sonntags gab es im Gasthaus, wo er seine Mahlzeit einnahm Wienerschnitzel. Der Sonntag wurde für Urban zu einem guten oder schlechten Sonntag, je nach der Größe des Wienerschnitzels. War es ein großes Wienerschnitzel, so war es ein schöner Sonntag, war das Wienerschnitzel weniger groß, so war es trotzdem noch ein Sonntag und kein gewöhnlicher Wochentag. An einem Wochentag musste Urban arbeiten, es gab aber trotzdem kein Wienerschnitzel. Waren früher der Kirchgang, nach dem Kirchgang der Gasthausbesuch, nach dem Gasthausbesuch das gute Mittagessen und nach dem guten Mittagessen der arbeitsfreie Nachmittag die Merkmale die einen Sonntag als Sonntag kennzeichneten, so war bei Vielen von all diesen Merkmalen nur mehr das gute Mittagessen geblieben. Für Urban zusätzlich entscheidend die Größe  des Wienerschnitzel. So bedeutete ein großes Wienerschnitzel einen zufriedenen Sonntag. Ein großes Wienerschnitzel war die Garantie für einen guten Sonntag. 

Urban sieht in seiner Erinnerung das Gesicht eines Jägers in einer der Jagdhütten, nicht identisch mit dem vermeintlichem Jäger, welchen er den Schuss von der gegenüberliegenden Bergseite zugeordnet hat. Dieser gesehene Jünger würde Urban vielleicht folgendermaßen beobachtet haben: Ein junger Mann schlendert ohne Eile den Staudamm entlang. Er richtet seinen Blick in den Wald, auf das Wasser oder gegen den sich jäh emporrichtenden Berg. Sein Blick ist einmal nach außen gerichtet, das andere mal nach innen. Seine Bewegungen haben etwas nachdenkliches an sich, man kann nicht erkennen was er denkt und wie er denkt, es lässt sich nur mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass er denkt. Während des Dahinschlendern macht er sich Notizen, obwohl für ihn, den Jäger, sich in der Umgebung nichts verändert. Der junge Mann macht sich wohl Notizen über die Ruhe, oder ist doch nicht alles so ruhig ?, könnte sich der Jäger gefragt haben. 

Urban versuchte, sich über sein Äußeres in dem Gesicht einer Frau, die in einem ihm entgegenkommenden Auto saß, ein Bild über sich selbst zu machen. Die Frau hatte ihn gegrüßt, also hatte sie ihn erkannt, so hatte er sich in seinem Äußerem und seinem verhalten während des Spazierganges nicht verändert. Er war äußerlich derselbe geblieben. Ergebnislos verliefen seine Versuche vor dem Spiegel, durch Grimassen, aufblähen der Backen, verziehen des Mundes oder rollen mit den Augen jemand anderer zu werden. Er blieb er selbst, soviel Mühe er sich auch gab. Er hatte schon kurzandauernde Veränderungen seiner Person erreicht, aber er fiel immer wieder in sich selbst zurück. 

Zugleich wenn er sein Zimmer in Ordnung brachte, brachte er auch seine Person in Ordnung. Er erkennt einen Zusammenhang zwischen der Ordnung in seinem Zimmer, die des öfteren in Unordnung ausartet, von ihm aber mit allen Kräften wiederhergestellt wird und seinem in Unordnung geratenen persönlichen Gleichgewicht. Das Eine stützt das Andere und bewahrt ihn vor Haltlosigkeit. 

Er hatte bestimmt auch heute nach dem Wachwerden auf die Strasse gehorcht, um zu hören, welcher Tag heute war, ein Wochentag, ein Samstag oder ein Sonntag? Urban braucht dazu keinen Kalender, er horcht auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos. An Wochentagen ist in der Früh sehr starker Berufsverkehr. An Samstagen sind es bedeutend weniger Autos, an Sonntagen ist es in der Früh auf der am Haus vorbeiführenden Strasse fast autoleer. Urban orientiert sich an seinem Autoverkehrskalender, womit sich gut Wochentage, Samstage und Sonntage voneinander unterscheiden lassen. 

In seinen Rückblicken stößt Urban auf eine Begebenheit, die verursacht hatte, dass beim zweiten Spaziergang die Erfahrungen des ersten Spazierganges ihn zu einer Folgereaktion veranlassten. Beim ersten Spaziergang hatte er sich vor einem Stück Schlauch, welches am Schotterweg lag, gefürchtet. Er hatte gesehen, dass dieser Schlauch ein Schlauch war und keine Schlange, einer Schlange aber sehr ähnlich sah. Seine Furcht vor dem Schlauch war Schlangenbezogen. Beim zweiten Spaziergang war Urban auf den Schlauch, vor dem er noch immer eine schlangenbezogene Angst verspürt hatte, getreten, um über die überzogene angst hinwegzukommen. Es war in ihm eine angst, die vom Gefühl her berechtigt war, aber gegen sein wissen stand. 

Er vermutet jetzt, dass er nach Überwindung der Gefühlsangst den Wind gespürt hatte, der während der ganzen Zeit des Gehens vorhanden gewesen sein musste, weil in der Schütt immer der Wind weht. Dies war einer der Gründe, weshalb er hier spazieren ging. Anstatt seiner Vorliebe für den wind, begann er den Wind zu hassen. Zuerst die Vorliebe für den wind, und jetzt der Hass. Es war ihm zuviel, dass der Wind dauernd wehte, er wünschte sich den wind nur zeitweise. Urban erkennt, dass er das, was er liebt, auch hasst. Er sieht in der Zuneigung die Abhängigkeit. Zuneigung ist für ihn etwas unfreies, Hass ist gleichbedeutend mit Zuneigung. 

Beim zweitem Spaziergang hatte er die Möglichkeit, eine Wahrnehmung aus dem ersten Spaziergang zu überprüfen, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmte und nicht nur seinem Bewusstsein entsprungen war. Er konnte es nicht erwarten, an der Futterhütte vorbeizugehen, um zu überprüfen, ob seine Erinnerung an die Futterhütte nur ein Phantasiegebilde gewesen war, Schlussfolgerungen von Wahrnehmungen, die sich in vielen Jahren im Gehirn gesammelt und nichts mit seinem Spaziergang gemeinsam hatten. Urban freute sich, weil er erkannte, wie nahe er der Beantwortung, ob seine Beschreibungen der Wirklichkeit im wörtlichen sinne entsprachen, anhand der Futterhütte kam. In diese Erwartungen mischten sich die Windgeräusche eines Laubbaumes. Die Beantwortung der Frage, ob die Bilder aus dem Bewusstsein die Wirklichkeit waren, wurde immer verschwommener, bis keine Hoffnung mehr bestand, die Frage zu beantworten. Dies bedeutete den Anfang der urbanischen Hoffnungslosigkeit. 

Aus den Windgeräuschen war es ihm möglich, das Geräusch eines einzelnen Laubbaumes herauszuhören. Er hatte sich auf diesen einen Laubbaum konzentriert, der noch das Laub vom Herbst getragen hatte. Der belaubte Laubbaum war ein Außenseiter unter den anderen kahlen Laubbäumen. Der Laubbaum hatte an diesem Umstand selbst keine Schuld. Urban kann sich mit diesem Laubbaum identifizieren. Das Klicken beim Kraftwerk hat auch heute nichts von seiner Faszination auf ihn verloren. Er versucht über den Spaziergang hinaus in seinen Erinnerungen zurückzugehen, ob er diesem Geräusch schon einmal begegnet ist. Aus der starken Beziehung zu dem metallischen Klicken schließt Urban, dass es in ihm aufgrund eines angenehmen Erlebnisses in seinem Unterbewusstsein bereits vorhanden ist. Urban hört ein Wort und kann sofort sagen: Dies ist die Briefträgerin, das sind die Wohnungsnachbar, das ist die Drogistin, ohne die bereffende Person mit den Augen gesehen zu haben. Eine Stimme sagt einem alles über eine Person. Jedes Geräusch wird jemandem zugeordnet, zu ganz bestimmten Bewusstseinsbildern. Für das Klicken findet Urban keinen Gegenstand, dem er es hätte zuordnen können. 

Nach dem Klicken erinnerte er sich an andere Empfindungen. Unmittelbar erkannte er in der Weite des Naturschutzgebietes die Weite Sibiriens. Er wusste nicht, wie es in Sibirien aussah. Es war ihm nur aus Gesprächen bekannt, in denen von der Weite Sibiriens, der Unberührtheit und dem Wind, der über die Landschaft fegt, die Rede war. Diese Unendlichkeit hatte er auch in seiner Landschaft gespürt, mit ihren halbwüchsigen Sträuchern, der Pipeline, in der urbanischen Fantasie errichtet von Strafgefangenen. Der Stacheldrahtzaun entlang des Staudammes war zum Stacheldrahtzaun eines Gefangenenlagers geworden. Die Jagdhütten wurden zu Wachtürmen, dazu der Wind, der über die Sträucher fegte. 

Hier vermutet Urban jetzt, dass er zu warten angefangen hatte auf die immer wieder zu hörenden Motorengeräusche, die von den Ortschaften in diese Stille vordrangen. Er konnte keine hören, es war Mittagszeit und die Leute saßen am Mittagstisch. In diesem Moment erkannte Urban, dass er allein war. Es waren das Kraftwerk, der Staudamm, die Autobahn und die Pipeline, die Leben verkörperten, aber nicht in menschlicher Art und Weise. Je tiefer die Erkenntnis vom Alleinsein in ihm eingedrungen war, umso heftiger hatte er sich dagegen gesträubt. Er neigt zum kontrollierten Alleinsein, wenn er dazu das Bedürfnis hat, dann will er allein sein. Zu anderen Zeiten drängt es ihn in die Gegenwart von Menschen und dann zieht er sich wieder zurück. Er nennt es die urbanischen Gezeiten. In jenem Moment des Spazierganges hatte er das Bedürfnis nach der Gegenwart von Menschen, sei es auch nur in der Form von Motorengeräuschen. Es gab keine Hinweise auf Menschen, die Geräusche seiner Schritte waren die Bestätigung für die alleinige Anwesenheit seiner Person. Von seinen Beobachtungen während des Spazierganges war nichts geblieben als die Geräusche seiner Schritte. Urban zeigt keine Entschlossenheit, weder zum Alleinsein, noch zum Leben in der Gemeinschaft. Das Pendeln zwischen den beiden Zuständen ist für ihn die einzige Möglichkeit zu leben. 

In den Erinnerungen lassen sich jetzt die Zeiten des Alleinseins und die Zeiten in der Gemeinschaft übereinanderschieben, sodass es ein harmonisches Bild ergibt. Er erinnert sich an das Vorwärtstasten mit dem Auto während der Rückfahrt. Er hatte sich gefreut, als er an den ersten Spaziergängern vorbeifuhr, es war Nachmittag. Zur selben Zeit, als Urban von seinem Spaziergang zum Mittagessen zurückfuhr, machten die anderen Menschen ihren Spaziergang. Es gibt verschiedene Zeiten, die urbanische Zeit und die Zeit der Anderen.

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