Franz Supersberger
IM.WESTEN
Herr A. öffnet das erste Mal die Tür vom Kellerabteil seiner neuen Wohnung und sieht, dass die Stellagen leer sind. In einer Ecke stehen am Boden ein Paar Arbeitsschuhe, an einem Hacken hängen eine grüne Arbeitshose und eine grüne Jacke. In einem Kübel sind verschiedene Gartenwerkzeuge. Daneben steht ein halb voller Sack mit Gartenerde und auf einer Schachtel steht eine Gießkanne. Diese Arbeitsgeräte gehören seinem Vormieter Z., der von einer Reise nicht mehr zurückgekehrt ist. Mit den Hausbewohnern hatte Herr Z. wenig Kontakt. Zur Arbeit verschwand er frühmorgens und kehrte spät am Abend heim. Für die Hausbewohner war er ein Phantom, manchmal sah jemand, wie er seinen linken Fuß über eine Stufe nachzog oder wie sein Rücken in der Türöffnung verschwand. Das Öffnen und Schließen der Wohnungstür besorgte er leise um niemanden zu stören und um sich selbst nicht zu erschrecken. Von seinen Reisen kam er nachts zurück. Bei längerer Abwesenheit klebte an seiner Tür ein Zettel mit dem Hinweis: „Bin im Westen“. Niemand wusste, welcher Westen damit gemeint war. Herr A. bückt sich, stellt die Gießkanne auf den Kellerboden und öffnet die Schachtel. In der Schachtel befinden sich Notizbücher mit der Aufschrift „Nach Westen“. Herr A. nimmt eines der Notizbücher von Herrn Z. und beginnt darin im Schein der Kellerlampe zu lesen.
31.12.
Ich bin in einem Gebirgsdorf zu Besuch und kann beobachten wie bewaffnete Leute aus dem Nachbarstaat über die Grenze eindringen und die Bergstation besetzen. Die Menschen in der Bergstation werden gefangen genommen. Im Gebirgsdorf fallen der Strom und die Wasserversorgung aus. Es dauert eine Stunde bis unsere Luftwaffe die Eindringlinge angreift und zurückdrängt. Jetzt ist es wieder möglich, mit der Bahn auf den Gipfel zu fahren. Bis zur Mittelstation hat die Bahnstrecke eine Steigung von siebzig Prozent, dann geht es senkrecht den Berg hoch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie hier der Zug fahren soll. Der Zugführer erklärt den Reisenden, dass er beide Motoren einschalten wird, zweimal je 120 PS. Der Zug fährt mit Schwung, ohne zu rutschen oder zu stocken, hoch. Alle atmen auf, als der Zug auf der Bergspitze ankommt. Die Geleise sind aus Kopfsteinpflaster an denen sich der Zug mit den Saugnäpfen, die am Waggonboden angebracht sind, fortbewegt. Bis zur Rückfahrt gibt es einen längeren Aufenthalt auf dem Gipfel. Als ich aufwache, fährt mein Zug in einer Stunde.
- 01. 1998 Intercity
Beim Lesen der vorherigen Tagebuchseiten habe ich den Eindruck, dass ich mir die sorgenvollen Gedanken hätte ersparen können und damit manche seelische Verstimmung. Ich kann dies in Zukunft verhindern, wenn ich bei Problemen dreimal tief durchatme, drei Lösungsvorschläge erarbeite und abwarte, bis die wirklichen Situationen und Gegebenheiten erkennbar sind. Die Abreise ist gut geglückt, die Sonne scheint in das Zugabteil. Einmal leuchten die Sitze goldgelb, dann liegen sie im Schatten. Wir fahren durch das weite Drautal, der Blick geht weiter als von meinem Fenster in Möselstein. Im Mölltal ist es Winter, von den Bergspitzen strahlt der Schnee, alles liegt im Sonnenlicht.
Was erwarte ich vom neuen Jahr? Mit einer Zugreise zu R. fängt es schön an. Bei ihr erfüllt sich mein Leben. Wie war es möglich, dem steilen Felshang, die Eisenbahntrasse nach Mallnitz abzutrotzen. Ähnlich ist es im Leben, manches muss dem Leben abgetrotzt werden. Oft spricht vieles gegen das Leben, viele Umstände sprechen gegen das Glücklichsein. Manchmal hilft trotzig sein, ein Gedanke für das neue Jahr. Lebenswille und Gestaltungswille, die Unpässlichkeiten die auftreten nicht wegwünschen, sondern annehmen, sie gehören zu meiner Person. Loslassen von den Beobachtungen am eignem Körper, Gesäß und Lendenwirbel entspannen. Es kommt nicht so schlecht wie befürchtet. Mehr Selbstbewusstsein, meine Arbeit und meinen Einsatz, auf welchem Gebiet immer, nicht selbst unterbewerten. Auf die Ergebnisse stolz sein.
02.01.
Den heutigen Tag spüre ich in meinen Füssen, den langen Spaziergang in der kalten Winterlandschaft. Der kleine Ort im Montafon hat im Winter einen besonderen Reiz, viel Schnee, kleine Holzhäuser und bunt gekleidete Gäste. Die Weihnachtsbeleuchtung an den Häusern brennt den ganzen Winter über. Hier enden Weihnachten erst zu Ostern, wenn die letzten Gäste abgereist sind. Der spannendste Ort ist die Musikkneipe in einer renovierten Mühle, weil ich nicht dort gewesen bin. Hier stimmt die Mischung aus Hotelbetrieben und vielen kleinen Pensionen. Der private Vermieter vergibt seine Aufträge an lokale Handwerker. So wird der Wohlstand auf viele verteilt und ist nicht in der Hand weniger. In der Türkei und in Tunesien gehören die Hoteldörfer einer internationalen Hotel- oder Bankenkette und die Gewinne fließen den Aktionären zu. Die Großbetriebe müssen aufgegliedert werden und die Aktien besteuert. Die Gewinne sollen nicht außer Landes fließen, sondern denen zukommen, welche die Arbeit leisten. Am Nachmittag besuche ich eine Siebzigjährige Frau, ihr Haus steht oberhalb des Dorfes. Der Besuch war schon jahrelang versprochen. Sie vermietet Zimmer an Gäste, dies bringt Geld und etwas Abwechslung in ihren Alltag. Ihr Mann ist vor zehn Jahren gestorben und die Kinder sind aus dem Haus ausgezogen. Sie hat sich einen jahrelangen Wunsch erfüllt und im Haus eine Montafonerstube eingerichtet. Der Parkettboden hat zwei verschiedene Holzarten. In der Stube steht ein Tisch mit Einlegearbeiten, geschnitzten Holzstühlen und ein Wohnzimmerschrank. Auf der Kommode stehen die Fotos vom Mann, den Kindern, Enkel und Urenkel. Hier sind die Vergangenheit und die Zukunft in Bildern festgehalten. Die verkachelte Sitzbank und der Kachelofen werden vom Vorraum aus beheizt. Sie sitzt am liebsten in der Küche, dort steht auch der Fernseher. Beim Abschied gibt sie mir eine Dose Weihnachtsgebäck, mit der Bitte, die Dose zurückzubringen.
Am Ende des Winterwanderweges steht ein Neubau. Ein rechteckiger, lang gezogener Betonkörper mit einer Glasfront zur Talseite. Der Anbau und der Eingangsbereich sind mit Brettern verkleidet. Die Sonne, der Regen und der Schnee werden die Bretter bearbeiten. Viele lehnen den Bau ab, weil er nicht der Tradition, der Enge, des Tales entspricht. Viele verreisen oft. Sie beharren in der Fremde auf den Surenkäse. Sie suchen in der Ferne die Bestätigung dafür, dass es nirgendwo so gut und so schön ist wie zu Hause. Die Vielreiser und Engdenker. Die Allinklusiv-Urlauber leben in Afrika genauso wie in Mitteleuropa. Sie wohnen dort wie zu Hause, essen wie zu Hause und unterhalten sich mit den Leuten von zu Hause. Engstirnigkeit oder Weitsicht ist keine Frage des Verreisens oder des Fernsehens, vom Lesen redet niemand mehr. Welche Auswirkungen hat es für einen Vermieter in Montafon, wenn ein Teil von Südamerika im Pazifik versinkt oder er nicht in Petersburg war. Das Wesentliche ist, die Andersartigkeit zuzulassen. Es gibt ein Grundmuster wie man sich gegenüber anderen Menschen verhält. Unabhängig davon, ob jemand ein Weltreisender oder ein Bodenständiger ist. Dazu gehört, dass man beim Essen wartet, bis alle am Tisch sitzen, alle die Suppe im Teller haben, und erst dann zu Essen beginnt. Weiterlesen