DIE:zeit II

Nach dem Ausscheiden aus dem  Berufslebens überrascht es mich, wie ich es geschafft  habe, vierzig Jahre lang selbstständig zu sein. Tag für Tag habe ich die Zeit von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends in der Papier-und Buchhandlung verbracht. Nur unterbrochen durch Sonntage, einwöchige Urlaube oder durch einen Kuraufenthalt. Mein Vorstellungsvermögen reicht heute vier Monate in die Zukunft, mein Erinnerungsvermögen  vier Jahre zurück. Vierzig Jahre sind  480 Monate oder 2080 Wochen. Auch die Kunden staunen darüber, dass ich  über vierzig Jahre lang die Trends und den Wandel im Handel  mitgemacht habe und den Supermärkten, den Diskontern und  den Einkaufszentren  widerstehen konnte.

Um  meine vierzig Jahre wahrzunehmen werde ich von sogenannten „Denkzettel“ unterstützt: Das sind Flugblätter aus meinem Geschäftsalltag, Protokolle von Vereinssitzungen und Veranstaltungen, Notizen von Seminaren und Kuraufenthalte und meine Buchveröffentlichungen. Dazu kommen zeitgeschichtliche Momente wie, Erdbeben und Autounfall, Documenta- und Biennale Besuch, Mauerfall und Jugoslawienkrise, der Elfte September und die Finanzkrise, um nur einige zu nennen. Ohne diese Gedächtnisstützen würde mein Leben im luftleeren Raum hängen.

Jetzt auch im Internet.

DIE:zeit

Heute ist man mit dem Wort Stress und Burnout schnell bei der Hand,  sobald im Beruf, dies kann in einer Fabrik, im Gewerbe oder im Handel sein,  mehr zu tun ist. Von den Frauen wird  öfter geklagt, dass sie durch den Teilzeitjob, den Haushalt und durch das Management der Kinder in Stress geraten. Stress entsteht auch dann, wenn man einen Termin wahrnehmen will und dann verzögert sich die Heimfahrt von der Firma durch einen Kunden oder es gibt Schwierigkeiten bei der Erledigung einer Arbeit. Eng verbunden mit dem Wort Stress ist das Wort Zeitnot. Die häufigste Ursache für die Zeitnot liegt darin, dass bei der Erledigung einer Aufgabe Schwierigkeiten auftreten mit denen man nicht gerechnet hat. Der  Hintergrund  ist, dass man sich ein zu viel an Arbeit vorgenommen hat. Läuft nicht alles reibungslos, gerät man aus Zeitnot in die Stressfalle.

Mit unserer Lebenszeit gehen wir brutal um, wir wollen in minimaler Zeit das Maximale erleben. Wir versuchen Zeit zu gewinnen, indem wir mit überhöhter Geschwindigkeit fahren oder während des Autofahrens einen Imbiss einnehmen und mit dem Handy telefonieren. Am Abend stellen wir fest, dass wir Abstriche bei unseren Vorhaben nehmen mussten. Mit Sechzig stellt sich die Frage, wie viel Zeit konnte man durch schnelles Autofahren, durch die Telefonate während des Autofahren oder durch den Verzicht auf das Mittagsessen, einsparen? Sind dies Wochen, Monate und hat man dadurch auf einer anderen Ebene mehr erreicht?

Verlorene Zeit.

JOHANNES:kapelle

Der Gailtal Radweg von Hermagor nach Villach durchquert Nötsch im Ortszentrum. Dabei werden zwei interessante Sehenswürdigkeiten im Sinne des Wortes und auch geografisch links liegengelassen. Die denkmalgeschützte Häuserzeile im Ortsteil Saak und die Pfarrkirche von Nötsch. An der Außenmauer der Pfarrkirche befindet sich, in „verkümmerten Zustand“, ein Fresko des Nötscher Maler Anton Kolig. Die lebensgroßen Figuren zeigen eine Madonna mit einem Kind am Arm, rechts und links musizierende Engel. Die weiblichen und männlichen Engel nackt, bis auf einen Lendenschurz. Die dominierende Farbe bei den Flügeln und dem Kleid der Madonna ist blau. An diesen Besonderheiten radeln die meisten vorbei, das nächste Etappenziel, den Ort Oberschütt, vor Augen. Wenige Kilometer abwärts findet dieses Fresko seine zeitgemäße Fortsetzung. 

In der Schütt beim “Johannisbrünnerl” ist durch eine Privatinitiative eine Kapelle errichtet worden. „Ohne öffentliche Geldmittel und unter Ausschluss der Öffentlichkeit“, wie der pensionierte Hafnermeister auf der Baustelle sagte. Die Kapelle, die an der Stelle steht, wo durch den  Dobratschabsturz die Kirche St. Johann zerstört wurde, schmiegt sich an den Berg.  Auch hier radeln, manchmal müsste man sagen „rasen“, die meisten Radfahrer vorbei. Sie sind auch nicht durch den steilaufragenden Berg, wo der Sendeturm am Gipfel wie ein Fingerzeig Gottes in den Himmel ragt, zu stoppen. Die Außenanlage der Kapelle fügt sich durch die vielen Natursteine harmonisch in die Schutthalden, die die Schütt durchziehen, ein. Das „Johannisbrünnerl“ und die Holzbänke werden den Einen und Anderen zum Rasten bewegen. Sich niederzusetzen auf „Eine Bank zum Nachdenken“ und vielleicht miteinander ins Gespräch kommen. Es wird ein Anziehungspunkt für jene werden, die einen Ort der Besinnung suchen. Für solche, die ihre Frömmigkeit nicht bei der Sonntagsmesse zur Schau stellen.

Madonna, Helga Druml

Ausgestaltet wurde die Kapelle mit einem dreiteiligen Fresko von der Nötscher Malerin Helga Druml. Das Fresko mit den lebensgroßen Figuren schließt an jenes, an der Kirchenmauer in Nötsch an. An der Stirnseite der Kapelle sitzt die Madonna auf einen umgestürzten Baum, wie sie überall in der Schütt anzutreffen sind. Das nackte Jesuskind auf ihrem Schoß stehend, daneben ein Mädchen im Kindesalter, so als wäre Jesus der „kleine Bruder“. Alle drei blicken die Besucher mit offenen Augen an und lächeln. Die Bekleidung hat die Farbe Blau. Ein Blau, wie es nur hier am Himmel, rund um den Dobratsch, zu sehen ist.                                               

Auf der rechten Wand ein Engel mit einer Schneerose in der Hand, und zwei Flügeln. Ein offenes Gesicht, welches einem zulächelt, wo man sich wünscht solch einem Engel zu begegnen, ob im Diesseits oder im Jenseits. Es kann sein, dass wir zu wenig achtsam sind und ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln ist in unserer nächsten Nähe und wir übersehen ihn. Auf der anderen Seite ist der Heilige Johannes als Schäfer dargestellt, wie er auf den Almwiesen rund um den Dobratsch seinen Dienst versehen hat. Um die Schultern hat der das Fell von einem erlegten Wild, zu seinen Füßen steht ein Schaf. Für einen  Gailtaler hat er eine etwas dunkle Hautfarbe. Er ist ein Mischling, aus den verschiedenen Völkern, die hier über die Jahrtausende vom Süden in den Norden und vom Norden in den Süden gezogen sind und hier ihre genetischen Spuren hinterlassen haben. 

SCHLOSS:park II

Komme ich beim Schlosspark in Spittal/Drau vorbei, dann erinnere ich mich, wie ich hier als Jugendlicher unbeschwert meine Mittagsstunden verbracht habe, oft zusammen mit Gleichaltrigen, kaum jemand von uns hatte Geld. Ich hatte das Glück, dass ich für die Mittagstunde verschiedene Illustrierte zum Lesen ausborgen konnte und wurde damit von den anderen schon erwartet. Unter vielen Zeitschriften konnte ich wählen, von Bravo bis zur Quick und Neuen Revue,  wo Oswald Kolle gerade seine Aufklärungsserie veröffentlichte: „Die Frau das unbekannte Wesen“. Dies fällt mir beim Gehen durch den Schlosspark ein und plötzlich fühle ich mich wieder jung, obwohl ich gerade ich Pension gegangen bin. Spontan entschließe ich mich beim Schlossteich auf einer Bank mit einer Zeitung niederzulassen. Ich kann beobachten, dass sich gegen früher nicht viel verändert hat. Einige verbringen wie damals die Mittagspause hier, Mütter machen mit ihren Kindern nach dem Einkauf eine kurze Rast, dazwischen sitzen Touristen mit einem aufgeschlagenen Stadtplan.

Ich überlege mir, wo werden manche von damals heute leben, was ist aus ihrem Leben geworden und leben noch alle? Ich ertappe mich bei diesen Gedanken, die Gedanken eines Pensionisten. Die Gedanken zur Jugendzeit möchte ich nicht abreisen lassen. Neben mir auf der Parkbank stellt eine Oma der Enkelin die Frage, wird die Schulzeit zur Pension angerechnet? Eine Frage, wie sie  nur die Oma stellen kann, für die Enkelin stellt sich heute die Pensionsfrage nicht. In vierzig oder fünfzig Jahren wird es den Begriff „Pension“ vielleicht überhaupt nicht mehr geben, so wie es ihn vor hundert Jahren auch nicht gegeben hat. Die Gesellschaft und Europa wird in fünfzig oder siebzig Jahren ganz anders aussehen, anders als wir uns dies heute vorstellen können. Plötzlich scheint mir, dass sich für mich noch einmal ein unbeschwertes Zeitfenster geöffnet hat, so unbeschwert wie in den Jugendjahren, das Pensionszeitalter.

Unfassbar.

SCHLOSS:park

Bei einem Aufenthalt in Spittal-Drau spaziere ich durch den Schlosspark, der mir seit meiner Lehrzeit in guter Erinnerung geblieben ist. An der Größe und der Gestaltung des Parkes hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel verändert. Einige Bäume wurden frisch gepflanzt, die Wege erneuert und neue Statuten haben im Park einen Platz gefunden. Das Herz des Parkes ist noch immer der Springbrunnen, in der Nähe des Schlosses Porcia, mit einem beachtlichen Beckendurchmesser. Dazugekommen sind neue Fontänen und Wasserspiele. Als Buchhandelslehrling verbrachte ich im Park, wenn es die Witterung erlaubte, meine Mittagsstunden. Welche Träume und Hoffnungen bewegten mich damals? Teilweise standen sie in Beziehung zum Aufbruch der Jugend in den 68er Jahren. Diese Bewegung war auch in der Kleinstadt Spittal/Drau präsent, da wir in der Buchhandlung Zeitschriften wie Twen, Konkret, Pardon und Der Spiegel im Verkauf führten. Diese konnte ich mir ausborgen und sie erweiterten mein Blickfeld. Zwischen den Forderungen der Jugendbewegung, wie ich es aus den Zeitschriften kannte und meinem Alltag gab es eine große Kluft. In meinen Tagträumen war ich beim Aufbruch der Jugend in den Metropolen von Deutschland und Frankreich dabei. Zu hause gab es  Diskussionen mit der Mutter, wenn ich am Samstagabend in das Dorfkino gehen wollte oder am Sonntag für ein paar Stunden in das nächste Landgasthaus. Kam ich von meiner Lehrstelle nach hause, so war die Mitarbeit bei der Heuarbeit, bei der Kartoffel- und Getreideernte selbstverständlich. Dazu gehörten auch die Fütterung und das Melken der Kühe und dies  nicht zu menschenfreundlichen Zeiten.

In der Mittagspause verzehrte ich das Jausenbrot im Park, manches Mal kaufte ich mir um einen Schilling ein Salzweckerl mit Essiggurken oder eine Tafel Schokolade. In der Nähe des Schlossparkes befand sich die Bananenreifanlage Baurecht und dort bekam man für einen Schilling ein Kilo Bananen. In den Wintermonaten war die Situation schwieriger, für einen Schilling bekam ich im nahe gelegenen Kolpinghaus eine Suppe und so konnte ich einen Großteil der Mittagspause im geheizten Speisesaal verbringen. Einmal in der Woche schenkte mir der Präsens vom Kolpinghaus eine Hauptspeise, wenn nach der Ausspeisung der Zöglinge noch Portionen übrig waren.

Speckbrot.