bodenpersonal

Ich beobachte ein interessantes Phänomen, zu bestimmten Zeiten erinnere ich mich an bestimmte Aussagen und Erfahrungen von früher. Nach dem Betreten der Arztordination, bei der Anmeldestation entscheidet sich vieles. Hat man die Hürde bei der Ordinationsassistentin geschafft, bekommt man einen Platz im Warteraum zugewiesen. Vor Jahrzehnten war es die Ordinationsgehilfin, diese Bezeichnung wird heute nicht mehr verwendet. Eines haben viele Praktische- und Fachärzte gemeinsam, die Freude sehr zeitig mit der Ordination zu beginnen. Ist dies ein Attribut an früher, wo es selbstverständlich war, dass die Menschen um sechs Uhr morgens mit der Arbeit begonnen haben? Ein Relikt der Krankenhaus Gene, wo die praktische Ärzteausbildung beginnt, bevor sie sich selbstständig machen können. Wer schon einmal den Krankenhausalltag erlebt hat weiß, dass die Patienten von der Nachtschwester morgenfit gemacht werden. Ob es sich um Blutdruck-, Fiebermessen, Verbandswechsel oder um das Frühstück handelt. Ein Sprichwort sagt, der frühe Vogel fängt den Wurm. Die erste halbe Stunde gehört den Ordinationsgehilfinnen um die Frühstarter aufzunehmen, Rezeptwünsche zu erfüllen und mit den ersten Versorgungen, wie Blutabnahmen, Infusionen und Massagen zu beginnen.

Beim Betreten der Ordination steht die Tür zum Arztzimmer offen und ist unbeleuchtet. Ich stelle mich bei der Ordinationsassistentin mit einem freundlichen Guten Morgen vor und der wohlmeinenden Feststellung: „Das Bodenpersonal ist schon bei der Arbeit“. In meiner ersten Lebenshälfte gehörte der Ausspruch, die Ärzte sind die Götter in Weiß zum Alltag.  Damit verknüpfe ich die Vorstellung von überirdischen Wesen, sie schweben über unseren Köpfen und sind für die Erdung auf ein Bodenpersonal angewiesen. Unter den landläufigen Christen ist die Bezeichnung, das Bodenpersonal vom lieben Gott für Priester und Ordensleute weit verbreitet. Für die Missstände in den christlichen Kirchen trifft die Schuld nicht Gott, sondern schuld daran ist das Bodenpersonal. Im Warteraum vom Arzt gebe ich mich allen möglichen Gedanken hin und es fehlt am Überblick, warum ich noch nicht aufgerufen wurde? Eine Intervention beim Bodenpersonal ob es sein kann, dass Rentner zurück gereiht werden, diese haben ja Zeit? Vom Bodenpersonal kommt ein Dementi, dies sei nicht der Fall, es passiert alles der Reihe nach.

Caravaggio II

In den Bildern von Caravaggio mit biblischen Szenen wird nichts verklärt. Seine Modelle für Apostel, für Heilige und für Engel sind nicht Bürger aus dem Adelsstand, sondern Menschen aus den Seitengassen von Rom. Er findet sie in der untersten Gesellschaftsschicht, Herumtreiber, Diebe, Nutten oder Dienstboten. Meine Gedanken zur Predigt waren, wie viele der Gläubigen kennen den Maler Caravaggio? Gibt es unter uns welche, die in einem Museum schon Bilder von ihm gesehen haben? Wer von den Kirchgängern hat sich intensiver mit dem Leben von Caravaggio auseinandergesetzt?  Bei jeder innerlichen Frage sind es weniger Gläubige geworden, bis zum Nullpunkt.  Vor fünf Jahren habe ich eine Caravaggio Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien besucht und eine Suhrkamp Basisbiographie erworben. Zwischen den Buchseiten fand ich den Kassenbon, es war der 11. 11. 2019 um 11.52. Er hat kein gottgefälliges Leben geführt, wegen verschiedener Verbrechen war er zeitlebens auf der Flucht, damit er nicht im Kerker landet.

Wie der „Ungläubige Thomas“ bei Caravaggio in die Wunde Jesu greift lässt die Anwesenden erschaudern. In einem Gasthof im Dorfzentrum von Arnoldstein erlebte ich einen Moment des Schauders, wo die Anwesenden vor Scheu zurückgewichen sind. An einem Spätsommerabend, die Theke ist von den Stammgästen besetzt, an den zwei großen Tischen im Gastzimmer sitzen kleine Krätzel und debattierten. Über die Fußballer und die Bundespolitiker, welche von der Lebenssituation der arbeitenden Menschen keine Ahnung haben. Hat ein Minister sich zur Pensionsreform geäußert, war der häufigste Spruch in Arnoldstein: „Dieser soll einmal in der Bude drei Nachtschichten am Ofen machen“. Mit Bude war die Bleihütte der Bleiberger Bergwerks Union und mit Ofen der Schmelzofen zur Bleigewinnung gemeint. Am späten Abend öffnete sich die Gasthaustür und ein muskulärer Mann mit kurzem Haarschnitt, einen fünf Tagesbart, die Unterarme und die Brust tätowiert, trat ein. An der Theke wurde für ihn ein Platz freigemacht, die Umstehenden haben zum Debattieren aufgehört. Mit dem Daumen ist er über den Rand des Bierglases gefahren und hat einen großen Schluck gemacht. Nachdem er das Bierglas auf den Tresen abgestellt hat, sind die Gespräche wieder in Schwung gekommen. Wer er war und warum ihm die Thekensteher einen Platz eingeräumt haben, war mir „Zuagrostn“ unbekannt. Zugeflüstert wurde mir, dass er vor ein paar Tagen aus dem Gefängnis in Klagenfurt entlassen wurde, er war wegen Messerstecherei in Haft.

Hotlines III

Frau Finken unterbricht mich: „Es tut ihr leid aber besagter Herr hat sich vom System abgemeldet. Die ist ein Hinweis, dass er nicht in seinem Büro ist, er könnte auf Grund der Gleitzeitarbeit schon nach Hause gegangen sein oder er verbringt den heutigen Tag im Homeoffice. Möglich wäre es auch, dass er sich in einem anderen Büro aufhält, dies könne sie von Salzburg aus nicht feststellen.“ Ich bat Frau Finken, mir eine Verbindung in die Landesstelle Kärnten der Sozialversicherung herzustellen. Vor Ort werden sie besser Bescheid wissen, wo sich besagter Herr Trauonig aufhält?

Mit diesem Argument konnte ich die Dame in der Vermittlung überzeugen. In Klagenfurt erklärte mir die nächste Gesprächspartnerin, dass Herr Trauonig derzeit Dienst im Kundeninfocenter macht. Sie werde ihm ein E-Mail schreiben, dass er mich zurückruft. Jetzt konnte ich mein Smartphon weglegen, das Ohr und die linke Hand konnte sich erholen. Während der Entspannung, welche sich nach den zwanzig Minuten Hotline im Körper ausbreitete meldete sich ein dringendes Bedürfnis. Erleichtert saß ich am WC, als im Vorraum das Telefon klingelte.

Von den öffentlichen Thermalbädern wird das Abschalten, dass Loslassen vom Alltagsstress auf ihre Fahnen geheftet. Zumeist gibt es einen Ruhebereich, noch besser einen Ruheraum. Beim Zugang zur Ruhe Oase wird mit einem Piktogramm Telefonieren mit dem Smartphon verboten darauf hingewiesen. Schön zu erleben, wenn dort Eltern auf ihre Kinder einwirken, dass sie sich in der Lautstärke zurücknehmen. Es fehlt in den öffentlichen Bädern nicht an Fun-Bereiche, wo sich Kinder und Jugendliche bei attraktiven Wasserspielen austoben können. Beim vor mich hindösen werde ich von einer lauthalsen Erwachsenenstimme gestört, welche mit einem Bekannten telefoniert, dass er den Nachmittag in der Therme verbringen wird und sich gerade im Ruheraum befindet.

Hotlines

Seit der Jahrtausendwende wird bei Behörden, Institutionen und Firmen im Kundenverkehr eine Hotline, ein telefonischer Auskunfts- und Beratungsdienst, eingesetzt.  Die zuständigen Gesprächspartner sind nicht direkt zu erreichen. Die wenigsten Anrufer wollen erfahren, was die Institution für Dienstleistungen oder die Firma für Produkte anbietet. Zumeist ist man über das Gegenüber informiert, weil man schon öfter mit ihm zu tun hatte oder sich vorab im Internet informiert hat. Von der Telefonstimme kommt zuerst die Aufforderung, dass man sich auf der Webseite über dieses und jenes selbst informieren könnte oder selbst aktiv werden könnte. Bei der Sozialversicherungsanstalt werde ich mit der Signage: „Ihre SVS ist um ihre Gesundheit bemüht. Beweisen sie, wenn es um ihre Gesundheit geht, Selbstständigkeit. Dies und jenes können sie selbst auf unserer Homepage erledigen. Haben sie noch etwas Geduld, wir sind um ihr Anliegen bemüht.“ Damit sind nicht ein paar Minuten gemeint, es sind schon zehn Minuten vergangen. Inzwischen kenne ich alle Tipps auswendig, auch den Hinweis, dass es wegen des erhöhten Kundenaufkommen zu einer längeren Wartezeit kommt. Gesünder ist es, wenn man zurückgerufen wird, drücken sie die drei um einen Rückruf zu aktivieren. Ich atme erleichtert durch, als es endlich heißt: „Legen sie nicht auf, ihr Anruf ist bereits gereiht, ihr Gesprächspartner meldet sich in Kürze. Um ihr Anliegen schneller erledigen zu können, drücken sie bitte für Fragen zur Bewilligung einer Therapie die Eins, für Auskünfte zur Beitragsvorschreibung die Zwei, für alle anderen Anliegen bleiben sie in der Leitung, die Vermittlung meldet sich in Kürze“. 

franz kafka

Ist es notwendig einen praktischen Arzt aufzusuchen, so hat sich dort fast alles vom Zuhören und vom Abhorchen zum Digitalen gewendet. Nach den Fragen was, wo und wie es einem wehtut, hat der Arzt früher mit einem Stethoskop den Patienten abgehorcht. Eine Röntgenassistentin hat festgestellt, dass die Überweisungen von seitens der Praktischen Ärzte immens zugenommen haben. Wenige hören den Patienten zu und horchen sie ab. Die Verantwortung für die Diagnose überträgt man auf die Röntgenbilder und den Ultraschall. In ihrer Jugendzeit hat der Gemeindearzt nach dem Zuhören und dem Abhorchen gewusst, was ihr fehlt und welche Therapie sie braucht.

Vom Hören gibt es viele Varianten, schlampig hinhören, das Falsche hören oder nur das hören was man hören will. Beim schlampigen Hinhören kann man etwas falsch verstehen. Wer den Namen Kafka kennt, sich aber nicht eingehender mit seinen Texten beschäftigt hat, kann bei einem Future über Franz Kafka manches falsch verstehen. In einer Radiosendung zu seinem hundertsten Sterbetag gehört zu haben, welches schlechtes Verhältnis er zu Frauen oder zu seinen Mitmenschen hatte. Sein Umgang mit dem Vater war gestört, sodass vom zuhören Entsetzen über seine Menschlichkeit die Folge ist. Seine Persönlichkeit entsprach nicht der Norm. Ohne sagen zu können, zu klären, was ist die menschliche Norm oder was zeichnet den normalen Menschen in der Gesellschaft aus. Gab es Maler, Komponisten, Dichter und Bildhauer, welche nach der Norm gelebt haben? Waren sie jemals bestrebt nach der Norm zu leben oder haben sie einfach nicht können? Kreativität entspringt nicht aus dem Leben nach der Norm, die Abkehr von der Norm. Eine Erweiterung der Weltwahrnehmung, wer in sich hineinhorcht.

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.” F. K.