vorder:berg

„Hier ist die Welt noch in Ordnung“, denkt man sich als Besucher, Wanderer oder Radfahrer, wenn  man in einen Ort ankommt der überschaubar ist. So empfinde ich, sitze ich auf der Bank vor der Totenhalle in Vorderberg. Eine Rastpause, auf der Fahrt mit dem Fahrrad von Hermagor nach Villach. Die Felder sind abgeerntet, die Konturen der gegenüberliegenden Berge sind auch im Licht der Sonne nicht mehr so scharf. Der Ortsfriedhof eignet sich für einen Spaziergang, Mama mit ihrem Sohn. Der Dreijährige, mit Sturzhelm, tritt mit dem Roller nebenher. Für alle Fälle führt die Oma den Kinderwagen mit. Gemeinsam besuchen sie das Grab des Opas. Ein Arbeitsteam errichtet gerade einen Grabstein. Es ist so warm, dass einer von ihnen mit nacktem Oberkörper arbeitet.

In der Nähe vom Friedhof befindet sich das Paradies, ein Kunstprojekt von Cornelius Kolig. Paradies und Friedhof liegen hier und im Alltag nahe beinander. Vom Wald kommt das Kreischen einer Motorsäge, von der Straße das Tuckern eines Motorrades. Fahr nicht fort, kauf im Ort. Mit diesem Spruch auf der Fensterscheibe wirbt der Tante Emma Laden am Dorfplatzl um Kunden. Im Dorfladen ist auch eine Gaststube integriert. Beim Zahlen ist Zeit für den Dorftratsch, für lebenswichtige Fragen: „Was wirst du heute Kochen“?,  „Spaghetti mit Fleischsoße“. Vor dem Geschäft die Dorflinde, von Sitzbänken umzäunt. Beim Kirchtag der Platz für den Lindentanz. Bei der Lindenwirtin ist kein Zimmer mehr frei.

Dem Obahuba an Tusch…

66:99 III

In jedem Wahlkampf kommen kritische Stimmen auf, zu Unrecht oder zu Recht, die darüber diskutieren ob es Sinn macht, dass über 70-jährige noch das Wahlrecht ausüben können. Ob es nicht sinnvoll wäre, wie es beim Führerschein gefordert wird, dass, ist man erst über Siebzig, zu einem Wahltest antreten muss. Im einen Fall geht es darum, ob man noch fähig ist ein Auto zu lenken, im anderen Fall, ob man noch geistig aktiv an der Politik und am Wahlkampf teilnimmt. Ein weiterer Aspekt und kritischer Einwurf kommt vom Vorfeld der Parteien, den parteipolitischen Jugendorganisationen. Diese sehen in Pensionsthemen eine Blockade für ihre Zukunftsthemen. Ihre Ideen und Wünschen an die Politik werden von den Senioren überstimmt. Wir Rentner, brauchen ihre Zukunft Ressourcen auf, verhindern notwendige Veränderungen. Die Vorhalte gibt es aus gutem Grund, weil der ältere Mensch wünscht sich den Erhalt des Erreichten, nimmt die Position des Bewahrens ein und meidet die Veränderung.

Die Ruheständler pochen darauf, dass sie auf Grund ihrer Arbeitsjahre das Recht haben, noch etwas von ihren Leistungen zu genießen. Nach einer anstrengenden Berufszeit noch die Süße der Leichtigkeit zu schlürfen. Für die Zukunft eines Staates braucht es beide Bevölkerungsgruppen und eine Brücke zwischen den Generationen. Bei diesem Spagat können die Politiker ihr Können beweisen. Dazugesellen kann sich die Tendenz, dass gerechtfertigte Forderungen nicht durch ein höheres Defizit erfüllt werden sollen, sondern durch gutes Einteilen der Steuern.

Nulldefizit

66:99 II

Plötzlich wird die Altersgruppe über sechzig nicht nur für die Wirtschaft, den Verkäufern von Seniorenreisen, Vitaminpräparaten und  praktischen Gehhilfen interessant, sondern auch für die wahlwerbenden Politiker. Diese Zuwendung ist jetzt, ein paar Wochen vor der nächsten Nationalratswahl in Österreich, aktuell.  Dies hat seine wahltaktischen Gründe.  Ein Drittel aller Wahlberechtigten Österreicher_innen, ca. zwei Millionen Menschen, sind Rentner, somit eine wahlentscheidende Bevölkerungsgruppe. Zudem lassen sich die Senioren leichter als geschlossene Gruppe ansprechen. Bei den Arbeitern oder Gewerbetreibenden sind die verschiedenen Interessen und Forderungen an die Politik schon weiter gestreut. Dementsprechend klingen die Ansagen und Versprechungen an die Senioren, wie eine Vorverlegung der himmlischen Genüsse. Eine kleine Kostprobe vom überirdischen Paradies.

Eigentlich müssten wir hellhörig sein, weil ähnliche und manche gleichlautende Versprechungen, wie Verwaltungsreform, Steuersenkung oder Gesundheitsfürsorge es schon vor der letzten und vorletzten Wahl gegeben hat. Die Politiker rechnen mit der altersbedingten Vergesslichkeit der Senioren. Trotz der Zerwürfnisse in der großen Koalition war es vor deren Auflösung möglich, den Pflegeregress abzuschaffen. Bislang hatte der Staat die Möglichkeit, wurden die Pflegekosten durch die Rente und das Pflegegeld nicht abgedeckt, auf die Ersparnisse und Immobilien der zu pflegenden Person zurückgreifen. Das Notgroschensparbuch wurde auf einen Schlag konfisziert.

66:99 I

Ein erfolgreicher Hit von Udo Jürgens war: Mit Sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an, mit Sechsundsechzig Jahren, da hat man Spaß daran.. Wenn dies stimmt, dann befinde ich mich in einer neuen Lebensphase. Udo, wie er liebevoll genannt wurde, hat diesen Schlager zu seinem Sechsundsechzigsten Geburtstag komponiert. Nach Berichten der Medien hat er sich in diesem Alter fitter gefühlt, als vergleichsweise zwanzig Jahre früher. Mit Sechsundsechzig Jahren hat er mehr auf seinen Körper geachtet, als in anderen Jahren. Auf dem Papier fühlen sich zwanzig Jahre früher sorglos an, umgekehrt stellt sich die Lebenssituation um vieles unkomplizierter dar. Da tauchen ernste Bedenken auf, Blockaden, ob noch zwanzig Jahre dazu kommen werden? Und wenn, in welchen körperlichen oder geistigen Zustand, man kann nur hoffen. Der Schlager, Mit Sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an, wird bestimmt bei vielen Menschen wieder Saison haben, zum Lebensmotto werden. In vielen europäischen Staaten drängt man darauf, hauptsächlich aus budgetären Gründen, dass die Menschen bis Fünfundsechzig Jahren arbeiten. Wobei es unter den Senioren einen kleinen Teil gibt, die freiwillig über das vorgesehene Rentenalter hinaus tätig sein wollen. Hauptsächlich findet man diese unter den Selbstständigen, unter den höheren Angestellten und Freiberuflern.

Nach einem Jahr werde ich wissen, ob mein Alltag mit Sechsundsechzig  eine neue Blüte erlebt. Nach den ersten Pensionschnupperjahren hoffe ich auf mehr Gelassenheit und weniger Ehrgeiz. Wobei ich der Meinung bin, dass sich schon viele Jahre vor dem Rentenantritt, zumindest in kleinen Dosen, Hobbys und Talente zeigen müssen. Wer bis zu seiner Pensionierung kein handwerklicher Typ war, wird auch nach Sechzig nicht zum professionellen Heimwerker mutieren. Dafür gebe es jetzt zahlreiche andere Beispiele, eines will ich noch anfügen. Wer bis Fünfundsechzig achtlos an Ameisen und Ameisenhaufen vorüber gegangen ist, sie zumeist zertreten hat, wird mit Sechsundsechzig Jahren bestimmt zu keinem Ameisensachverständigen. Die Wurzeln für ein geglücktes Alter liegen in der Aktivphase. Jedem wünsche ich, dass er die Jahre nach Sechsundsechzig genießen und sich sinnerfüllt beschäftigen kann.