ge:fesselt II

Während der Zugfahrt lese ich den Aufsatz von Siegfried Lenz: „Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur“. Die Zukunft der Literatur bildet einen kleinen Aspekt von den möglichen Zukunftsszenarien für die Menschheit. Bei den vielen Szenarien für das Überleben der Menschheit ist der Bereich der Literatur wahrlich kein wesentlicher, wohl eher ein nebensächlicher Aspekt. Jene, die selbst schreiben oder gerne lesen werden diesen Aspekt für die Zukunft der Menschheit ganz anders beurteilen. Bei ihnen wird der Stellenwert höher sein als bei Anderen und den Wert einer geräumigen Wohnung bei weitem übertreffen. Lesen war noch nie ein breitenwirksames Medium, es ist ein Bildungsangebot und ein Freizeitvergnügen für eine kleine Anhängerschar. Die größte Wirksamkeit der Literatur sieht Siegfried Lenz darin, wenn in Erzählungen ein Ort, eine Talschaft oder Landstrich verortet wird. Über allen anderen Freizeitvergnügen steht für mich das Schreiben. Im extremsten Fall führt die Abstinenz vom Schreiben bei mir zu einer Verschlechterung meiner allgemeinen Befindlichkeit. So werde ich zum regelmäßigen Schreiben gezwungen.

Es wird sich erweisen, ob es durch den uferlosen Gebrauch der digitalen Medien zu einer Reizüberflutung mit Texten kommt? Durch die sogenannten Kurznachrichtendienste kommt es zu einer Verflachung der Inhalte. Die neuen digitalen Möglichkeiten sind eine Folge des Zeitgeistes, eine technische Entsprechung zur Verflüchtigung der Literatur. Zum Anderem ist es mit Hilfe der Computertechnik möglich, auch Netzliteratur zu speichern. Dies ist einer der Schwerpunkte des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar.

Wie schnell aus einer Bahnfahrt ein Abenteuer wird, erleben wir beim Umsteigen in Stuttgart, vom EC- Zug in die S-Bahn nach Marbach am Neckar. Die starken Regenfälle am Nachmittag haben zu einer elektrischen Störung im S-Bahnverkehr geführt. Die S4 konnte wegen einer defekten Weichenstellanlage nicht abfahren. Alle Fahrgäste wurden gebeten die S5 zu benützen. Am Bahnsteig fünf war es schwarz vor Menschen, welche auf eine Fahrt mit der S5 warteten. Alle hofften einen Platz in der nächsten Zuggarnitur zu finden. Als die nächste S5 in den Bahnhof einfuhr und zum Stehen kam, quellte aus dem Zug eine Masse von Menschen. Der Zug wurde von den Wartenden gestürmt. Von Bahnbediensteten wurden die Reisenden in die Waggons hinein geschoben. Bis sich die Inneren zur Wehr setzten und nach außen riefen, es geht nichts mehr. Im Zug waren die Sitz- und Stehplätze doppelt belegt.

Verspätung

ge:fesselt I

Die Autofetischisten sind der Meinung, die wahren Abenteuer spielen sich auf der Autobahn ab. Zumeist kennen sie das Zugfahren nur vom Hörensagen. Für mich spielen sich die wahren Abenteuer, vor allem die Begegnungen mit fremden Menschen, im Waggon ab. Um 9.16 fährt der Eurocityzug EC114 von Villach nach Stuttgart, eine Direktverbindung, ab. Halt in Schwarzach St. Veit um 10.48. Während des Aufenthalts in Schwarzach St. Veit quillt aus dem Zug am Nebengleis eine Gruppe von Jugendlichen hervor. Sofort fällt auf, dass alle Jugendliche Kopfhörer im Ohr haben und sich mit Musik vom Handy berieseln lassen. Andere wischen über den Bildschirm des Smartphone. Die Menge der Menschen die Ein- und Aussteigen nimmt am Bahnhof in Salzburg zu. Zumeist Jugendliche, die eine Klassengemeinschaft bilden. Die Waggons der Zweiten Klasse sind gut besetzt. Die Unterhaltung mit den Sitznachbarn nebenan oder gegenüber kommt in den Zugabteilen immer mehr aus der Mode. Die Reisenden sind von den modernen Kommunikationsmitteln gefangen, genau genommen gefesselt. Dabei erhält das Wort gefesselt eine neue Bedeutung. Unter gefesselt verstand man früher sich nicht mehr bewegen können, aber auch von etwas fasziniert sein.

Als Kinder haben wir uns gegenseitig beim Indianer-, Räuber-  und Gendarmspiel gefesselt. Eines der beliebtesten Freizeit-, vor allem Sonntagsvergnügen im Internat Tanzenberg  war das Indianerspielen. Der ideale Ort ein kleiner Wald westlich vom Schloss. Dort wurden die bösen Weißen von den Indianern gefangen und an den Marterpfahl, einen Baum, gefesselt. In wenigen Fällen wurde dabei ein Feuer entzündet, aus Furcht vor der Heimleitung und um den Spielplatz nicht zu verraten. Das Anpirschen und  Fesseln war ein sozialer Akt. Das derzeitige gefesselt sein vom Smartphon führt oft zu einer Abkapselung von der Gemeinschaft. Bei Kleinkindern dazu, dass sie  nicht mehr so redefreudig sind. Die Mutter- und Papastelle,  die Stelle der geschichtenerzählenden Großmutter übernimmt heute das stumme Tablett. Von den Eltern wird immer weniger Zeit dafür verwendet, um den Kleinkindern die Sprache zu vererben. Das Sprechenlernen wird durch eine Wischbewegung ersetzt. Die Bewegungen des Mundes, die Lautenbildung werden durch eine Handbewegung, wie es mit einem Putzlappen beim Bodenaufwischen passiert, ersetzt. Der Fortschritt besteht neuerdings darin, dass wir von einem kommunikativen Gespräch in eine putzlappenwischende Gesellschaft abrutschen.

Putzlappen

leben:wille

Bei wem die Geburt einige Jahrzehnte zurückliegt, der sinniert nicht über einzelne Tage, auch nicht über Wochen nach. Eine untergeordnete Rolle spielen einzelne Monate, ansonsten zählen nur die Jahre. Es ist nicht selbstverständlich, dass der Lebenswille mit den Jahrzehnten steigt. Durch Ereignisse wie Ehestreit, Beleidigungen, finanzielle Verluste, Sterbefälle wird der Lebenswille angeknappert.  Manches Mal bäumt er sich noch einmal auf, wenn es zu einer neuen Herausforderung kommt: Ein Wohnungswechsel, eine neue Partnerschaft, die Würdigung für eine besondere Leistung, ein persönlicher sportlicher Rekord. Beginnt ein neuer Lebensabschnitt, eine zweite berufliche Herausforderung oder die Zeit für die Muse kommt. Als Älterer ist man ziemlich überrascht, kommt man mit einem zehn Tage alten Baby in Kontakt. Alle Gliedmaßen sind von erstaunlicher Winzigkeit, es funktioniert alles im kleinsten Detail. Erstaunlich ist der Lebenswille, welchen das  Baby ausstrahlt. Wo es nichts von seiner Zukunft weiß, sowenig über die Umwelt. Kaum Erfahrung mit dem menschlichen Gegenüber und doch beeindruckt es durch seinen festen Vorsatz und hier bin ich. Egal ob es die Finger, die Füße, die Augen oder der Gesichtsausdruck sind, der Entschluss etwas auszudrücken und umzusetzen ist da.

Beim freien Schreibtraining, was wäre wenn ich nicht hier wäre? Nach der Ankunft am Salzburger Bahnhof bin ich überrascht, wie warm es in der Stadt Anfang März ist. Es war verlockend die Innenstadt zu besuchen, gleichwohl es dort zurzeit keine besonderen Aktivitäten gibt. Der Durchfluss an Menschen wird in der Getreidegasse um vieles geringer sein, als in der Vorweihnachtszeit. Als Kleinstadtbewohner aus einem Cafefenster vom Tomaselli auf die vorbeiströmenden Menschen zu sehen und ihr Verhalten zu beobachten, ist spannend. Streune ich durch die Altstadtgassen dann schrumpft, dass von meinem Wohnort ferne Salzburg, zur Kleinstadt.

Der Große.

transformation:phase

Bei Enkelkindern verläuft heute die entwicklung zumeist anders als früher. Vor allem in der Zeit der Transformationsphase. In der Pubertät, vom Mädchen zum Teenager, falls dies heute noch so benannt wird. Dabei wird den Eltern massiver Widerstand geleistet, gerade von Einzelkindern. Bei mehreren Geschwistern wird vieles an überschüssiger Kraft innerhalb der Geschwister abgeleitet. Es richtet sich nicht die ganze Speerspitze gegen die Eltern und die engsten Verwandten. Wie eine Spinne lauert das Transformationsphasenkind darauf, ob eine Bemerkung oder eine Feststellung fällt, der sie widersprechen kann. Wo sie glaubt ein hieb- und stichfestes Wissen zu besitzen. Inhalte soweit verändert, dass sie Recht hat. Der Wunsch, Recht zu haben, hängt auch mit der Erbmasse zusammen. In der Familientradition gibt es wenig Einsicht dafür, dass mehrerer Aspekte erst ein ganzes Spektrum ergeben.

Das familiäre Umfeld einigt sich darauf, das Transformationsphasenkind nicht zu reizen. Bei der gemeinsamen Gestaltung der Freizeit und vor allem ist man zusammen verreist. Zum Großteil dreht sich alles darum, was möchte das Kind, wie kann man es unterhalten. Soweit es nicht jede Unterhaltung langweilig findet und sich lieber dem Smartphone zuwendet. Schnappt es hin und wieder einen Begriff vom Gespräch auf, so wird dieser Begriff schnell bei Wikipedia eingesehen. Möglicherweise kann sie mit einer gegenteiligen Aussage auftrumpfen. Von der Vergänglichkeit des Wikipedia Wissen, von seiner raschen Verfallszeit, hat das Transformationsphasenkind nichts gehört. Für sie ist diese Plattform stabil wie ein Felsen.

Für sie gibt es in der Welt der Erwachsenen keine Grenzen, so als wird eine Rakete in den Weltraum geschossen. Orte sind dann sehenswert, wenn es ein mondänes, prächtiges Shoppingcenter oder eine noble Einkaufsstraßen gibt. Die erste Frage beim Aussteigen aus dem Auto oder der Bahn lautet: „Wo befindet sich das nächste Shoppingcenter, Shopping brutal“. Während der Aussage wird auf die Reaktionen der Erwachsenen geschielt, weil die Ansage brutal shoppen kennt die Oma nicht. Statt einem vermeintlichen Kaufzwang stand früher das Sparen im Vordergrund. Das ständige Präsentsein am Handy lässt die Großeltern nachfragen: “Musst du ständig am Smartphone wischen? Möchtest du dich nicht ein wenig mit uns unterhalten”? Insgeheim hofft man, dass aus dem Transformationsphasenkind ein bunter Schmetterling wird.

Transformationsphasenkind

zu:lassen ll

In einem Interview in der SZ vom 7. März 2015 fragt Pater Alfred Tönnis nach einer Krebserkrankung, Gott warum ich? Als seine Mutter mit sechsundfünfzig Jahren einen qualvollen Krebstod stirbt, fragt er: „Wie kann Gott barmherzig sein, wenn er meine Mutter so grausam sterben lässt? Sie hat doch jeden Tag den Rosenkranz gebetet.“ Er wendet sich von der Kirche ab, dann doch wieder der Religion zu und tritt in einen Orden ein. Er kümmert sich zurzeit um Flüchtlinge und ist oftmals in Krisengebieten unterwegs, obwohl er kürzer treten sollte. Dies haben ihm die Ärzte nach seiner Magenkrebsoperation empfohlen. Wissen Sie, sagte er im Interview, wenn ich eines Tages vor Gott stehe, werde ich ihm die Frage stellen, warum musste der Tod meiner Mutter so grausam sein?

In Österreich wird über eine Lockerung der Gesetze in Sachen Sterbehilfe diskutiert. Dazu frage ich mich, wer will freiwillig sterben?  Wenn wir völlig daneben stehen oder wie es jemand ausgedrückt hat, dass bei ihm die Sicherungen durchgebrannt sind. Kann das Schicksal, welches Schicksal, so brutal in eine menschliche Idylle einschlagen, dass man nach einer Sterbehilfe verlangt? Heute bekommt man erzählt, am 28. März bekommen wir eine Enkelin. Der normalen Geburt wird ein Kaiserschnitt zu einem  vorbestimmten Termin vorgezogen. In einigen Jahrzehnten wird es heißen, am 17. April stirbt mein Onkel. Man hat an seine Freiwilligkeit zur Inanspruchnahme der Sterbehilfe appelliert. Ob dies immer freiwillig und auf Grund sogenannter medizinischer Indikatoren passieren wird? Dies bedeutet bei unheilbaren und mit großen Schmerzen verbundenen Krankheiten, auf innigen Wunsch des Kranken selbst.

Am offenen Grab wird der Verstorbene vom Pfarrer als ein herzensguter Mensch beschrieben. Der Durst nach einem lieben Wort ist bei Älteren zu Lebzeiten besonders groß. Im Alter werden die Zuwendungen spärlicher. Begleitet man als Oma oder Opa sein Enkelkind auf eine Veranstaltung erlebt man, dass die Enkelin als ein schönes und braves Kind bezeichnet wird. Es zieht die Aufmerksamkeit vieler Anwesender auf sich und man kommt mit anderen Besuchern leichter in das Gespräch. Der Anknüpfungspunkt ist zumeist die Frage nach dem Alter der Enkelin. Besucht man ein Fest ohne Enkelkinder, dann ist es zumeist mit der Aufmerksamkeit vorbei. Die Jungen gehen untereinander mit Komplimenten und Liebkosungen großzügiger um. Sie ziehen die meiste öffentliche Aufmerksamkeit und Bewunderung auf sich.

Aus dem Tagebuch…