fern:dorf ll

In den sechziger Jahren war es üblich, dass man aus dem Internat nur zu den hohen Feiertagen, wie Weihnachten und Ostern nach Hause durfte. Mit dem Briefschreiben pflegte man den Kontakt zu den Eltern und den Geschwistern. Unter günstigen Umständen kam einmal im Monat jemand von der Familie zu Besuch auf das Zollfeld. Nur wenige Eltern der Schüler hatten ein Telefon, zumeist waren diese Eltern Unternehmer. Zum Telefonieren musste man in die Internatskanzlei gehen und um ein Telefonat bitten. Bei uns zuhause gab es kein Telefon.

Am meisten freute ich mich über die Zusendung eines Jausenpaketes, mit einer Tafel Schokolade, Butter und Marmelade, Speck und Wurst, sowie einem beigelegten Brief. Brot gab es im Heim genug, aber für die Nachmittagsjause konnte ich einen Aufstrich gut gebrauchen. Nach vier Monaten im Internat konnten wir zu den Weihnachtsferien das erste Mal nach Hause fahren. Ich hatte Glück, ein Bub aus der Nachbargemeinde ging mit mir in die selbe Klasse, dessen Vater war Viehhändler und fuhr einen Opel Caravan. Bei der Heimfahrt saßen wir zu sechst im Auto, der Kofferraum vollgestopft und auf dem Schoße hatten wir noch zusätzliches Gebäck.

So glücklich ich für eine kurze Zeit war, wieder zu Hause zu sein, so stellte sich bei mir in den Weihnachtsferien ein eigentümliches Befremden ein. Der so vertraute Bergbauernhof erschien mir eigentümlich ungewohnt. Mir machte die Lebendigkeit des Bauernhofes zu schaffen. Der Internatsalltag hatte seine geordneten Mahlzeiten, Unterrichts- und Studierzeiten. Ebenso festgelegte Gebets-, Freizeit- und Schlafzeiten. Der Schlafsaal, der Speisesaal und das Studierzimmer waren steril. Am Bauernhof herrschte eine gewisse Unordnung, eine gesunde Mischung aus Schmutz und Sauberkeit. Die Menschen und Tiere strahlten Wärme aus, es war ein anderer Tagesrythmus. Der unmittelbare Zugang zu den Lebensmittel war augenscheinlich, vieles wurde selbst erzeugt: Kartoffeln, Brot, Salat, Obst, Milch, Fleisch und Eier. Auf Schritt und Tritt war ich von Tieren umgeben, dem Hund, den Katzen, den Hühnern, Schafe, Pferd und Kühen. Von den jungen Kälbern und Schweinen, alles lebendig. Beim Eintreten in den Stall wandten mir die Kühe den Kopf zu, das Pferd wieherte und scharrte mit den Hufen. Das frisch geborene Kalb war warm und die Kuh schleckte mit ihrer Zunge das Fell sauber. Der Hofhund „Wächter“ trottete unentwegt hinter mir her und auch ohne Hundeschule befolgte er „Sitz und Pfote“. Einen Leckerbissen fing er mit einem Sprung in die Luft. Von dem Komfort, der im Internat herrschte, war am Bauernhof nichts zu spüren. Das Heim hatte eine Zentralheizung, Warm- und Kaltwasser im Waschraum, sowie Duschen.

Speckbrot

fern:dorf l

Während des Besuchs bei einer Jungfamilie ist die jüngste Tochter um drei Uhr Nachmittag vom Kindergarten nach Hause gekommen. Sie hat drei Sätze gesprochen und sich dann mit ihrem Gameboy auf die Wohnzimmercouch gelegt. Sie war die nächste Zeit völlig vom Spiel fasziniert und vereinnahmt. Ich will keinem Kleinkind oder Schulkind sein Smartphone, Tablett oder iPod wegnehmen. Über die ständige Fernsehpräsenz mit den vielen Programmen braucht man zurzeit nicht zu diskutieren, höchstens darüber,  ob jedes Kind in seinem Zimmer einen eigenen Fernseher braucht. Lobenswert, wenn sich die Eltern dafür einsetzen, dass ihre Kinder ein Instrument erlernen oder bei einer Turnergruppe mitmachen.

Es gibt Situationen, in denen ich von Empfindungen aus meiner Kindheit heimgesucht werde. Solche Augenblicke erlebe ich immer wieder, wobei mir diese keinesfalls sofort bewusst sind. Als Zwölf-bis Vierzehnjährige wurden wir damals zu den Kindern gezählt. Beim Gedanken, was heute in dieser Altersstufe beim Medien- und Unterhaltungskonsum abläuft, überkommt mir das Schaudern. Sie werden von den digitalen Medien mit Informationen und visuellen Eindrücken überschwemmt. Meine Erinnerungen beziehen sich auf meine Zeit in einem Internat, das Maximale in dieser Altersklasse war, dass wir am Samstagnachmittag fernsehschauen konnten. Erinnern kann ich mich an die Fernsehserien „Fury – Die Abenteuer eines Mustang.“ Der Film begann immer damit, dass Joey den Namen seines Freundes „Fury“ laut in die Prärie hinaus ruft. Diesen Ruf vernimmt das Pferd und galoppiert über Stock und Stein zu seinem Freund Joey. Dieser tätschelt den Hals des schwarzen Hengstes und sagt: „Na Fury, wie wär’s mit einem kleinen Ausritt, hast du Lust?“, worauf Fury  freudig wiehert und beide davonreiten. Eine weitere Nachmittagsserie war „Lassie“ – Die Abenteuer einer Langhaarcollie“.  Lassie gilt heute noch als der berühmteste Hund der Welt. Vor Beginn der Sendungen stellten wir, etwa hundert Schüler, im Studiersaal unsere Stühle in Richtung Fernseher und mussten zuerst Mucksmäuschen still sein. Erst dann wurde der Fernseher eingeschaltet.

Die andere Zerstreuung fanden wir beim Lesen. Es gab eine große Internatsbibliothek wo wir wöchentlich Bücher ausborgen konnten. Besonders beliebt waren bei uns Buben in diesem Alter die Bücher von Karl May. Ich habe sehr gerne die Berichte von Missionaren, die in Afrika gefährliche Abenteuer im Dschungel erlebten, von den Ureinwohnern mit Giftpfeilen angegriffen wurden, gelesen. So mit ihnen mit gefiebert, wenn sie bei ihren  Missionierungen, begleitet von afrikanischen Trägern, sich durch den Dschungel kämpfen mussten. Von Giftschlangen, Leoparden und Krokodilen bedroht wurden. Sie konnten in getarnte Fallgruben stürzen oder in Schlingen geraten und hochgeschleudert werden.  Haben wir von Verwandten Bücher bekommen, dann mussten wir diese dem Präfekten vorlegen und dieser hat darüber entschieden, ob sie „jugendfrei“ waren. Einmal wurde mir das Buch, „Lachender Süden“,  von Birgit Lindgreen, geschenkt. Es gab darin eine Kussszene, dies wurde auch in einem katholischen Internat toleriert.

Silencium

un:keusch ll

Eine zentrale Rolle spielt das Gewissen im christlichen Glauben. Bereits beim Sündenfall im Paradies meldete sich das schlechte Gewissen von Adam und er gibt Eva die Schuld. Nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlagen hat und von Gott gefragt wird: „Kain, wo ist dein Bruder Abel“? antwortet dieser mit Schuldgefühlen: „Bin ich der Hüter meines Bruders“? Bald nach dem Schuleintritt werden die Volksschulkinder auf das Sakrament der heiligen Kommunion und der  Beichte vorbereitet. Vor der Beichte erfolgt die Gewissenserforschung.

Für alle Zöglinge gehörte zum Internatsalltag die wöchentliche Beichte und der tägliche Empfang der Heiligen Kommunion. Einem 12jährigen war es in einem reglementierten System und überwachten Tagesablauf kaum möglich größere Sünden zu begehen. Das Schlimmste waren die Streitereien und Raufereien unter Gleichaltrigen. Sind diese schon Sünden? Ein Aufbegehren gegen die Präfekten gab es nicht, wenn nur passiv. Zu den schweren Sünden gehörte die Unkeuschheit, begangen durch unkeuschen Gedanken und Tun. In diesem Alter wussten viele von uns nicht was unkeusche Gedanken sind. Bei der Gewissenserforschung haben sich der Großteil von uns damit schwer getan und was sollte man beichten? In kindlicher Not haben wir wöchentlich den Beichtstuhl gewechselt und dabei immer dasselbe gebeichtet. Bei etwa fünfhundert Zöglingen konnte sich wohl kein Beichtvater jeden reuigen Sünder merken.

Kartoffelpüree.

un:keusch l

Das Gewissen ist etwas sehr persönliches, zudem man anderen keinen Zutritt gewähren will. Es ist ein Regulierungsorgan in der Psyche, bei den Christen sagt man dazu Seele, mit der man für sich das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Je nach persönlicher Empfindlichkeit regt sich das Gewissen bei dem Einem früher, beim  Anderem später. Die einen plagen Schuldgefühle, sagen sie zur Partnerin ein lautes Wort, die anderen finden es normal, brechen sie einen handfesten Streit vom Zaun. In der Fußgängerzone der Draustadt empfinden manche beim Anblick eines Bettlers ein Unwohlsein, denken sie dabei  an ihren eigenen Wohlstand. Aus Mitleid greifen sie in die Tasche um einen Euro zu geben. Andere gehen auf die Bettler zu und beschimpfen sie, am liebsten würden sie sie davonjagen, zurück in die Oststaaten. Von manchen Straftätern sagt man, sie haben kein Gewissen. Im Umgang mit den Nächsten ist das Gewissen unverzichtbar. Die Wirtschaft lebt es vor, wie schädigend man mit den Bedürfnissen der Mitarbeiter umgeht. Die persönliche Befindlichkeit der Arbeiter spielt keine Rolle, es geht nur darum wie hoch der Konzerngewinn ist. Von den Managern in staatsnahen Betrieben wird es vorgelebt, wo mit nicht nachvollziehbaren Berechnungen Bezüge kassiert werden, die in keinem Verhältnis zu dem Verdienst eines Durchschnittösterreichers stehen. Ein anstößiges Beispiel sind die Pensionen der Angestellten der österreichischen Nationalbank. Die monatlichen Pensionen liegen zwischen drei- bis fünftausend Euro, die Spitzenpensionen darüber. Sie haben mit einer Klage dagegen Einspruch erhoben, dass sie einen Solidaritätsbeitrag von etwa dreihundert Euro jährlich zahlen sollen.

Die Straßenseite wechseln Menschen, die einem gegenüber ein schlechtes Gewissen haben. Sie verhalten sich so, als hätten sie einen nicht gesehen, weil sie einen ausgeborgten Geldbetrag nicht zurückgezahlt haben. Bei einer geschäftlichen Abmachung das Wort nicht gehalten haben und aus einem fadenscheinigen Grund eine Provisionskürzung vornehmen. Sie leben solange selbstzufrieden, bis man sich zufällig begegnet. Falsche Scham wäre es, sich als Geschädigter zu schämen und zu versuchen der Begegnung auszuweichen.

Putzfetzen.

web:friedhof

In der Mittagsstunde sitze ich in Caorle  vor dem Museum in der Sonne. Immer wieder kommen hierher Paare um sich auszuruhen. Derweil strömen aus den verschiedenen Richtungen die Trauergäste in die Kirche. Der Tod kennt keine Ferien, er zwingt uns sein Handeln auf. Dem Toten in der Kirche, männlich oder weiblich, hat Gott das Wort entzogen. Er tritt ohne Hab und Gut vor Gott, alles Irdische wird unter den Erben aufgeteilt. Meine Hoffnung für das Jenseits ist, dass uns Gott das Wort zurückgibt. Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.

Wie können die vielen Wörter, welche ich in die Welt gesetzt habe in Ehren gehalten werden, wem kann ich vertrauen?  Sie sind nicht zum Verkauf gedacht, wie die materiellen Güter. Der Fortbestand meiner Wörter ist mir ein tieferes Anliegen, als die Vererbung der täglichen Gebrauchsgegenstände. Bis heute sind die Hüter der Wörter die Bücher, traditionell von den Bibliotheken archiviert. Im Internet sind die Server die Bewahrer der Wörter, sie herrschen zumeist in Übersee. Welches Interesse haben sie, die vielen Wörter zu archivieren?  Wird es, so wie es für den Leib einen Friedhof gibt, dereinst für die Webseiten einen Internetfriedhof geben? Für wie lange und zu welchen Friedhofsgebühren.

Fragliche Zukunft.

Allen Besuchern ein schoenes Osterwetter, einen braven Osterhasen,

und erholsame Feiertage.