FREI:tod

Fahre ich in den frühen Morgenstunden am Drauradweg von Villach in Richtung Paternion, so werden in mir verschiedene Erlebnisse wach. Die Drau begleitet mich seit der frühen Kindheit. Blickte ich aus dem Küchen- oder dem Schlafzimmerfenster, so sah ich, wie sich die Drau in vielen Schleifen durch das Tal zog. Rechts und links die Überschwemmungsgebiete, welche sich bei Regenfällen mit Wasser füllten. Die reißende Drau, deren Wasser sich mit Gewalt in Richtung Villach ergoss, war eingebettet in große Auwälder. Je heißer es im Sommer wurde umso näher rückten die Kühe zum Fluss, um sich vor den sengenden Sonnenstrahlen zuschützen und aus den Tümpeln zu trinken. Egal zu welcher Jahreszeit, der Wasserstand des Flusses war ein ständiges Gesprächsthema. Einmal hatte die Drau zu wenig Wasser, ein andermal schwoll die Drau so stark an, dass sie aus den Ufern trat und die angrenzenden Felder überschwemmte. Bei länger andauernden Regenfällen wurden die Keller der Häuser in Beinten überflutet, bei Hochwasser der ganze Talboden. Bis in die sechziger Jahre war die Drau ein unregulierter Fluss, der alle Freiheiten hatte. In den siebziger Jahren wurde die Drau reguliert, aufgestaut und zur Stromerzeugung genützt. 

Nach dem Passieren des Bundesheeranlegeplatzes bei Oberwollanig erblicke ich am Rand vom Drau-Radweg eine Gruppe von Frauen, welche mit erhobenen und ausgebreiteten Armen, mit leicht gebeugten Knien und einem verzückten Gesicht  in die gegenüberliegenden Sträucher blicken. Vor Verzückung bleiben sie von allen Geschehnissen vor und neben ihnen unberührt. Die Innigkeit wie sie in die Sträucher blicken lässt, in der Zeit um den großen und kleinen Frauentag, auf eine Marienerscheinung schließen. Oder es zeigt sich eine der vielen Frauen, die in ihrer Ausweglosigkeit den Weg in die Drau gewählt haben. „Wieda is ane aus da Sunnseitn ins Wossa gongan“, wurde zu uns Kinder gesagt, wenn eine Frau den Freitod in der Drau gewählt hat.

Ebereschen.   

STRASSEN:fest

Es schmerzt, wenn die Partnerin, mit der man über Jahrzehnte zusammengelebt hat, stirbt. Obwohl das Zusammenleben nicht immer einfach war, wird die Verstorbene in den höchsten Tönen gelobt. Sie fehlt in der Wohnung, wo viele Stücke an sie erinnern, dies tut weh. Die Fotoalben werden hervorgeholt und darin geblättert,  sowie Bilder aufgestellt. In Zukunft wird es schwieriger sein, da die Fotos auf CD gespeichert sind, und die CD als Grabbeigabe beigelegt werden. Deshalb erfreuen sich die Herstellung von digitalen Fotobüchern immer größerer Beliebtheit. Es spricht einiges dafür, dass man die Verstorbene über das Geschehen und die Veränderungen in der Wohnstraße weiterhin informiert. Am Fuße des Dobratsch ist  die Frau eines Nachbarn verstorben, sie waren über Jahrzehnte verheiratet. Damit die Verstorbene über die Ereignisse in der Straße weiter Bescheid weiß, geht der Mann einmal in der Woche, das Bild seiner Frau in der Hand, durch die Straße und erzählt ihr, was sich in der letzten Woche zugetragen hat. Dabei lässt er nichts unerwähnt: Bei einem Haus wurde die Fassade neu gestrichen, beim Nächsten hat sich das Kind beim Spielen verletzt. Die Familie aus dem übernächsten Haus ist in den  Sommerurlaub gefahren und von der Familie gegenüber hat die Tochter jetzt einen festen Freund. Bis er die ganze Straße abgeschritten ist, dauert es eine Weile, so wird die verstorbene Frau über vieles informiert.

Aus den Berichten von Bekannten gelingt es den Frauen zumeist leichter über den Verlust von ihren Partner hinwegzukommen und den Alltag zu meistern. Sie haben mit der Instandhaltung der Wohnung und dem Zubereiten der Mahlzeiten eine Aufgabe. Dazu kommt die Grabpflege und erlaubt es die Entfernung wird es täglich besucht. Am Friedhof kann man erleben, dass Frauen ein leises, manchmal  ein lautes Zwiegespräch mit dem verstorbenen Mann führen, bei ihm ihren Kummer und die Sorgen abladen.

Nachbarschaft.

NACH:feiern

Von den Kärntnern wird behauptet, dass sie gerne singen und feiern. Auch bei Verallgemeinerungen ist meistens ein Körnchen Wahrheit dabei, aber auch Vorurteile. Es ist spannend, wenn sich Menschen aus den verschiedenen österreichischen Bundesländern über die landesspezifischen Eigenheiten unterhalten. Eine ältere Frau erzählte, dass in Vorarlberg Anfang der fünfziger Jahre die Steiermark und Kärnten für das Ausland gehalten wurden. Dies ist nicht verwunderlich, da zu dieser Zeit viele Bewohner ihr Heimatal ein ganzes Leben nicht verlassen haben. Die weiteste Reise führte in die  Bezirksstadt. Man kann sagen, die Kärntner sind eine Mischung aus Österreicher und Italiener und die Vorarlberger sind eine Mischung aus Österreicher und Schweizer.

Verschickt man die Einladungen zum letzten Fest, dann klingt dabei Wehmut mit und was ist das letzte Fest? Es entsteht bei anderen Missgunst, wie beim Gleichnis vom verlorenem Sohn in der Bibel. Der Daheimgebliebene ist dem ausgewanderten Sohn das Fest zur seiner Wiederkehr neidig, da dieser sein ganzes Erbteil durchgebracht hat. Zum Geschäftsende wird  betont, was man für den Ort geleistet hat, die Mitarbeit in der Öffentlichkeit, die geistigen Impulse. Von der Verwandtschaft wird spekuliert, wie viel man für die Erben zur Verfügung stellen wird. Wer sucht der findet.

Ein Afrikaner, ein Paketzusteller aus Zimbabwe hat mich gefragt, was ich mir anläßlich der Pensionierung denke? In seinem Land gibt es für die Menschen keine Pension. Arbeiten, bis die Lebenszeit abgelaufen ist.       

Das Ticken der Sanduhr.

AN:abmelden

Alles im Leben hat eine Ablaufzeit. Eine der häufigsten Tätigkeiten ist, sich irgendwo an- und abzumelden, ein ständiges Ausfüllen von Formularen. Kinder muss man häufig an- und abmelden, zum Kindergarten, zum Schulbesuch, zum Gitarre- oder Gymnastikkurs, zum Sportverein und bei der Jungschar. Mit dem Lebensfortschritt wird es nicht besser. Es müssen das Auto, der Fernseher, die Führerscheinprüfung, das Studium, ein Ausflug, an- und abgemeldet werden. Eine große Herausforderung bedeutet der Wohnungswechsel, das Anmelden im neuen Wohnort und das Abmelden vom Geburtsort. Der Besuch beim Arzt erfordert eine Terminvereinbarung, für den neuen Arbeitsplatz braucht es eine Anmeldung zu einem Vorstellungsgespräch. Beim Bundesheer gehört das An- und Abmelden, wie das Grüßen, zum Alltag.

Der Schritt in die Selbstständigkeit beginnt mit dem Anmelden des Gewerbes. Nach der Reform des Gewerberechtes ist heute das Erlangen verschiedener Gewerbe, zum Beispiel des Handelsgewerbes, von fast allen Bedingungen befreit. Vor Jahrzehnten gab es noch strenge Antrittsbedingungen, wie den Befähigungsnachweis. Heute sind fast alle Hüllen, Pardon, Hürden gefallen. Jeder kann jedes Gewerbe ausüben, früher wurden die persönlichen und beruflichen Voraussetzungen genau geprüft.

Kommt man in die Situation, wegen Pensionierung sein Gewerbe zurückzulegen, so nimmt man die, mit Schnörkel reich verzierten Gewerbescheine wieder in die Hand. Die erste Frage von der Beamtin ist, wollen sie das Gewerbe ruhend stellen oder wollen sie es abmelden. Eine Entscheidung, die man nicht rückgängig machen kann. Nach der Geschäftsverpachtung ist der logische Schritt die Gewerbelöschung. Ein Vorgang der körperlich spürbar ist. Der Beruf, indem sich der Mensch ausrückt, wird  abgemeldet. Man erwartet sich von der Beamtin ein mitfühlendes Wort, nichts geschieht. Im kleinen Büro stappeln sich auf jedem Sessel die Akte, zum Niedersitzen ist kein Sessel frei. Es gelingt ein Abmeldeformular hervorzuzaubern. Mit einer Unterschrift ist die Löschung der Gewerbescheine vollzogen, das Formular verschwindet im Aktenberg. Das Herzklopfen, die Abschiedsträne wird auf später verschoben. Der Bescheid über die Abmeldung wird per Email zugesandt, kein Schriftstück.

Schmucketiketten.

AUS:radiert

Mit dem Wort „ausradiert“ verbinden wir verschiedene Vorstellungen. Am häufigsten denken wir daran, dass ein  falsch geschriebenes Wort ausradiert wird. Auch bei diesem so selbstverständlichen Vorgang hat es in den letzten Jahrzehnten einige Entwicklungen gegeben. Vor Jahrzehnten gab es zum Ausradieren nur den rotblauen Radiergummi, den wir alle kennen. Zu den Kautschukradiergummis sind die sogenannten Plastikradiergummis dazugekommen. Für die mechanische Schreibmaschine wurde der Radierstift und der Korrekturroller entwickelt. Bei den elektronischen Schreibmaschinen konnte man die Fehler mit Hilfe eines Korrekturbandes ausbessern. Am Computer gibt es den “virtuellen Radiergummi”, es war noch nie so einfach Fehler zu beseitigen.

Das Wort „Ausradiert“ benützen die Zeitungen bei Katastrophenfällen, wie Verkehrsunfall, Lawinenabgang, Tsunami oder Erdbeben, wenn dabei eine ganze Familie umkommt, oder ein ganzer Ort zerstört wird. Ein Name, eine Familie, ein Ort wurden für alle Zeiten gelöscht. Bei uns macht sich tiefe Betroffenheit breit, soweit wir bei der Fülle von Katastrophen die aus dem Radio, dem Fernseher und dem Internet in das Wohnzimmer schwappen, noch Zeit und Mitgefühl haben.

Wird  nach vierzig Jahren der Firmenname auf der Hausfassade übermalt, dann wird mit Farbe und Pinsel ausradiert. Der Name wird aus dem Gesichtsfeld gelöscht, oder schimmert noch das Negativ durch, obwohl ein neuer Name auf der Hauswand steht?  Verzögern kann man den Vorgang, wenn man einen Ordner anlegt und darin Werbebriefe, Prospekte, Fotos und Leserbriefe aufbewahrt und sich vornimmt, in fünf Jahren den Ordner zu durchforsten. Dann kann man neu entschieden, was man behalten will und von was man sich trennen will.

Bedeutungslos.