lebenswege

In meiner Erinnerung sitze ich, am 6. Mai 1976 um 20.59 Uhr, in der Küche am Tisch und plötzlich geht eine Welle durch das Haus.  Der Stuhl auf dem ich sitze wird hochgehoben, dass ich einem Moment befürchte mit dem Kopf am Plafond anzustoßen. Von draußen höre ich wie Dachziegel auf der Straße aufschlagen. Der nächste Gedanke war raus aus dem Haus und weit weg vom Gebäude. Beim Nachbarhaus lag in der Einfahrt der halbe Schornstein auf dem Asphalt. In den folgenden Nächten war kein Durchschlafen möglich, immer wieder wurde ich von kurzen Erdstößen geweckt. Auf dem Nacht Kastl lag eine Banktasche griffbereit mit den Geschäfts- und Autoschlüsseln, Dokumenten und Ausweispapiere. Die Wohnungstüre habe ich in den ersten Wochen nach dem großen Erdstoß nicht abgeschlossen. Diese Erinnerung hat sich unverhofft eingestellt, als wir, zwei fremde Menschen in der Klinikum Cafeteria auf unsere Partnerinnen gewartet haben.

Der Funke der Erinnerung ist auf eine dritte Person übergesprungen.  Eine Frau mischte sich in unser Gespräch ein und erzählte von sich. Sie kann sich gut an den Herbst des Jahres 1976 erinnern, an den siezehnten September. Am Vormittag saß sie in der Handelsakademie in Spittal Drau, um die Aufnahmeprüfung zu schreiben, als plötzlich die Erde bebte. Schreiend sind sie aus der Schule gestürmt.  An diesem Tag ereignete sich das stärkste Nachbeben in Friaul und in Kärnten. Die Angstschreie der Kinder von der gegenüberliegenden Volksschule in Arnoldstein klingen mir noch immer im Ohr. In den ersten Schulwochen standen die Eingangstür von der Schule und die Türen von allen Klassenzimmern offen, es gab immer wieder Nachbeben.

Meine Erinnerungen an Spittal / Drau beginnen etwa ein Jahrzehnt früher. In den sechziger Jahren absolvierte ich in der Papier- und Buchhandlung Petz am Bahnhof meine Ausbildung zum Buchhändler. Als Hak Schülerin hat sie dort ihre Schulwaren eingekauft.  Die Jugendlichen welche mit dem Zug oder mit dem Postbus am Spittaler Bahnhof ankamen, hatten die Möglichkeit vor Schulbeginn in der Papierhandlung einzukaufen. Manche Lebenswege begegnen sich unverhofft, um danach wieder in verschiedene Richtungen auseinanderzugehen.

herbststrauß

Die Verantwortung des Kunden beim Einkaufen wird immer weiter ausgedehnt, dies erlebte ich nach dem verlängerten Wochenende. Beim Lebensmitteleinkauf nahm ich für einen Krankenhausbesuch einen Blumenstrauß mit. Der Blumenstrauß trug den Beinamen „Herbstgruß“. Nach Auskunft einer Floristin ist es in den Krankenhäusern nicht gerne gesehen, wenn blühende Blumenstöckel zu den Patienten gebracht werden. Die Blumenerde könnte schädliche Mikroorganismen enthalten und diese sich im Krankenzimmer verbreiten. Gewünscht sind Blumensträuße, denn Blumenvasen stehen in ausreichender Zahl zur Verfügung. Besonders hilfsbereite Schwestern nehmen den Besuchern die Blumen ab und besorgen eine Vase. Das Depot für die Vasen befindet sich meistens in der sogenannten Teeküche. Neu sind bei den Lebensmittelhändlern die Aufkleber: „Lebensmittel sind wertvoll, Verbrauchsdatum abgelaufen, Ware in Ordnung. Verwenden statt verschwenden“. Zumeist ist der Preis für diese Artikel um 50 % Prozent reduziert. Zwei Tage nach dem verlängerten Wochenende trugen auch die Herbststräuße diesen Aufkleber. Ich hatte keine andere Möglichkeit und habe einen „Herbstgruß“ mitgenommen. Versehen mit dem Aufkleber, verwenden statt verschwenden. Vor der Kassa befand sich ein Aufsteller mit verschiedenen Herbst-Pralinen, deren Aktualität in der Vergangenheit lag. Hier war ebenso ein Hinweis angebracht, verwenden statt verschwenden.  Alle Herbst Pralinen um 50 % Prozent reduziert. Als Naschkatze war es mir einerlei ob die Pralinen eine Hülle mit einem Herzen tragen oder eine neutrale Verpackung.  

Vom Einkaufszentrum führte mein Weg direkt in das Krankenhaus und die Verpackung vom Blumenstrauß landete im Müllkübel, damit auch der Picker mit den minus 50 % Prozent. Abends habe ich mir den Kassastreifen vom Einkauf angesehen und dabei festgestellt, dass bei den Herbst-Pralinen der 50 % prozentige Nachlass ausgewiesen und abgezogen wurde. Beim Blumenstrauß, obwohl am Einwickelpapier ersichtlich und beim Regal gekennzeichnet wurde der Preisnachlass nicht abgezogen.

Einen schmalen Blick in die digitale Zukunft, bei die Bestellabwicklung, machte ich im letzten Jahr meiner Ausbildung. Die Buchhandlung Petz wurde eine Betreuungsstelle der Buchgemeinde Alpenland. Jedes gelieferte Buch war mit einer Lochkarte versehen. Dies war ein Kartonstreifen von etwa 18 mal 9 cm in dem, wie schon der Name andeutet, eine Vielzahl von Vierecken, Quadraten und Kreise gestanzt waren. Wurde ein Buch verkauft, wurde die Lochkarte entnommen und wöchentlich an die Buchgemeinschaft weitergeleitet. Aus den übersandten Lochkarten wurde von der Zentrale der Verkaufserlös und die Provision ermittelt. Die Nachlieferung der verkauften Bücher erfolgte automatisch. Der Umgang mit den Lochkarten war ein schmaler Blick in die Zukunft der modernen Warenwirtschaft.

wartezeit II

Bei ihnen, in Mettnitz, gab es im Ort einen Spar Markt, dieser ist vor Jahren abgebrannt. Erst in diesem Jahr hat man einen Neubau begonnen. Von ihrer Wohnung aus kann er den Baufortschritt beobachten. Er hat bei einer Villacher Baufirma als Schlosser gearbeitet und großes Interesse am Neubau. Seine Schlosserlehre hat er in der Maschinenfabrik Springer in Friesach gemacht, ein weltweit tätiges Unternehmen im Anlagenbau. Ein wichtiges Exportland war Russland, dieses ist durch die Sanktionen im Zuge des Ukraine Krieges weggebrochen. Ein ähnliches Firmenschicksal kenne ich durch meinen Neffen, welcher für die Firma Palfinger in Russland mit der Leitung von Zweigniederlassungen tätig war. Die Firma Palfinger musste Russland sanktionsbedingt verlassen.

Auf seine Frage, wo wir zuhause sind, habe ich geantwortet wir wohnen jetzt seit fast zwanzig Jahren in Villach. Jahrzehnte habe ich in Arnoldstein gelebt und war dort mit einer Papier- und Buchhandlung selbstständig. Er hat in den siebziger Jahren mehrere Wochen auf dem Werksgelände der Bleiberger Bergwerksunion in Containern verbracht. Die Firma Kollitsch hat dort eine Werkshalle errichtet und der ganze Bautrupp hat auf der Baustelle gelebt. An diese Wochen kann er sich gut erinnern, an einen Wochentag im Besonderem. An diesem Tag haben sie bis etwa halb acht Uhr abends am Bau gearbeitet. Sie saßen beim Abendbrot als in ihren Unterkünften plötzlich die Lampen schwankten, das Geschirr vom Tisch fiel und die Containerwände zu knirschen begannen. Keiner hatte eine Erklärung dafür, bis der Polier schrie, alles raus, ein Erdbeben. Im Freien sahen sie mit Schrecken, dass der Baukran ganz schief stand, zu ihren Gunsten nicht umgekippt war. In den nächsten Tagen gab es immer wieder kurze Erdstöße, wo Flaschen oder Gläser auf den Boden fielen. Seine Erinnerungen kann ich nachfühlen, zu dieser Zeit war ich bereits selbstständig in Arnoldstein. Das Erdbeben ereignete sich am 6. Mai 1976 um neun Uhr abends. Das Epizentrum lag im benachbarten Friaul, in der Nähe von Gemona, etwa achtzig Kilometer von Arnoldstein entfernt.

wartezeit

Ambulante Patienten werden oft von den Angehörigen, den Partnern begleitet. Für sie stellt sich die Aufgabe, wie sie die Wartezeit zubringen. Im Klinikum Klagenfurt, wie auch in fast jedem anderen Krankenhaus, gibt es die Möglichkeit derweil in der Cafeteria einen Cappuccino zu trinken. Besteht die Notwendigkeit meine Partnerin zu einer Untersuchung in das Klinikum zu begleiten, dann sorge ich zu Hause für die Wartezeit vor.  Mein Tageheft habe ich immer in meiner Dokumententasche. Es gibt keine Wartezeit, wo ich nicht etwas in das Tageheft einzutragen habe oder meistens der Fall, nachzutragen habe. Manches Mal genügt die Tageszeitung zum Lesen, weil zu Hause komme ich im besten Fall zum Durchblättern. Bei unserem letzten Termin hatte ich das Buch Wittgensteins Neffe von Thomas Bernhard dabei. Ich bin gerade dabei, dieses Buch nach Jahrzehnten nochmals zu lesen. Der Auslöser dafür war, dass ich mich in eine Biografie von Ludwig Wittgenstein vertiefe. Die Cafeteria im 1. Stock hat eine kleine Terrasse in den Innenhof des Klinikums und war an einem Hundstage, einem Sommertag mit über dreißig Grad eine Oase der Glückseligkeit. Mein erster Eindruck, hier warten am späten Vormittag auch andere Familienangehörige auf Finale der Untersuchungen.

Ein Herr, etwas jünger als ich, saß vor der zusammengefalteten Tageszeitung in der Nähe von mir. Er bestellte sich nochmals einen Durstlöscher, Himbeere und Soda, einen halben Liter. Nachdem die Serviererin den Durstlöscher vor ihn abgestellt hatte, blickte er mit einem Seufzer auf die Uhr: „Dos Dauert“. Ausdrücken wollte er damit, dass die Untersuchungen an seiner Frau kein Ende nehmen. Ich habe ihn ermuntert und gesagt, dass ich auf meine Lebensgefährtin warte. Schnell sind wir in das Gespräch gekommen, manches hatten wir gemeinsam. Wir waren es, welche die Frauen mit dem Auto hierhergebracht haben und wir sind der mobilere Teil in der Partnerschaft. Sie sind im Mettnitztal zuhause und dort ist ein Pkw eine Notwendigkeit um die Alltäglichkeiten zu erledigen. Ich verwies auf meine Hüftoperation vor etwa einem Jahr und dass ich froh bin, wieder ein Fahrzeug lenken zu können. So sind wir als Lebensgemeinschaft mobil für größere Einkäufe und verschiedene Erledigungen.

mülltonne:müllofen

Kleine Handelsgeschäfte im Non Food Bereich haben immer öfter damit zu kämpfen, dass die Inhaber beim Erreichen des Rentenalters keinen Nachfolger für das Geschäft finden. Kürzlich war in einer Tageszeitung zu lesen, dass ein 85jähriger Papierhändler einen Nachfolger*in sucht. Aus meiner Selbstständigkeit denke ich, hat jener Kollege ein bisschen die Zeit übersehen? Anderseits bewundere ich, dass er in seinem Alter immer noch seinen Geschäften nachgeht. Der Arbeitstag ist bestimmt eine körperliche und geistige Herausforderung. Auf den Villacher Stadtflohmärkten habe ich öfters erlebt, dass ehemalige Ladenbesitzer versuchen den Rest an Waren an den Mann oder die Frau zu bringen. Vor der Geschäftsschließung bemüht man sich durch Abverkauf und einen firmeneigenen Flohmarkt möglichst viel an Waren los zu werden. Ein Hindernis dabei ist, dass es einen Überschuss an Waren gibt und täglich Werbeprospekte mit Aktionen, Angeboten und Superangeboten von fabrikneuen Artikeln im Briefkasten landen.  Die „Krone“ an Angeboten sind die lästigen Werbetrailer im Internet, welche in der Black Friday Woche ihren Höhepunkt erreicht. Dagegen sind die lokalen Angebote ein Windhauch.

Funktioniert bei Geschäftsauflösung der Abverkauf nicht zur Gänze, was zumeist der Fall ist, dann deponiert man derweil den Rest der Waren im Eigenheimkeller. Als nächsten Schritt meldet man sich bei einem der Flohmärkte in der Stadt an. Verschämt steht man am Sonntagvormittag hinter dem Campingtisch und hofft, dass keiner der ehemaligen Kunden durch das Flohmarktgelände streift. Einen sommerlang verbringt man die Sonntage als Tandler hinter dem Campingtisch am Parkplatz vom Einkaufszentrum. Den einen und den anderen Artikel nehmen die Besucher zu einem Schnäppchenpreis mit. Im Herbst bringt man die restliche Ware in den nächsten Caritas Laden, dort erhalten die Utensilien eine zweite Chance. Auf den Flohmarkt und in den Caritasladen kommen viele aus Neugierde und hoffen auf einen Lottosechser. Im schlechtesten Fall entsorgt man den Rest der Waren in die Mülltonne und befeuert damit den Müllofen in Arnoldstein.