URBAN:X

Nach dem Klicken erinnerte er sich an andere Empfindungen. Unmittelbar erkannte er in der Weite des Naturschutzgebietes die Weite Sibiriens. Er wusste nicht, wie es in Sibirien aussah. Es war ihm nur aus Gesprächen bekannt, in denen von der Weite Sibiriens, der Unberührtheit und dem Wind, der über die Landschaft fegt, die Rede war. Diese Unendlichkeit hatte er auch in seiner Landschaft gespürt, mit ihren halbwüchsigen Sträuchern, der Pipeline, in der urbanischen Fantasie errichtet von Strafgefangenen. Der Stacheldrahtzaun entlang des Staudammes war zum Stacheldrahtzaun eines Gefangenenlagers geworden. Die Jagdhütten wurden zu Wachtürmen, dazu der Wind, der über die Sträucher fegte. 

Hier vermutet Urban jetzt, dass er zu warten angefangen hatte auf die immer wieder zu hörenden Motorengeräusche, die von den Ortschaften in diese Stille vordrangen. Er konnte keine hören, es war Mittagszeit und die Leute saßen am Mittagstisch. In diesem Moment erkannte Urban, dass er allein war. Es waren das Kraftwerk, der Staudamm, die Autobahn und die Pipeline, die Leben verkörperten, aber nicht in menschlicher Art und Weise. Je tiefer die Erkenntnis vom Alleinsein in ihm eingedrungen war, umso heftiger hatte er sich dagegen gesträubt. Er neigt zum kontrollierten Alleinsein, wenn er dazu das Bedürfnis hat, dann will er allein sein. Zu anderen Zeiten drängt es ihn in die Gegenwart von Menschen und dann zieht er sich wieder zurück. Er nennt es die urbanischen Gezeiten. In jenem Moment des Spazierganges hatte er das Bedürfnis nach der Gegenwart von Menschen, sei es auch nur in der Form von Motorengeräuschen. Es gab keine Hinweise auf Menschen, die Geräusche seiner Schritte waren die Bestätigung für die alleinige Anwesenheit seiner Person. Von seinen Beobachtungen während des Spazierganges war nichts geblieben als die Geräusche seiner Schritte. Urban zeigt keine Entschlossenheit, weder zum Alleinsein, noch zum Leben in der Gemeinschaft. Das Pendeln zwischen den beiden Zuständen ist für ihn die einzige Möglichkeit zu leben. 

In den Erinnerungen lassen sich jetzt die Zeiten des Alleinseins und die Zeiten in der Gemeinschaft übereinanderschieben, sodass es ein harmonisches Bild ergibt. Er erinnert sich an das Vorwärtstasten mit dem Auto während der Rückfahrt. Er hatte sich gefreut, als er an den ersten Spaziergängern vorbeifuhr, es war Nachmittag. Zur selben Zeit, als Urban von seinem Spaziergang zum Mittagessen zurückfuhr, machten die anderen Menschen ihren Spaziergang. Es gibt verschiedene Zeiten, die urbanische Zeit und die Zeit der Anderen. 

Die ganze Geschichte…

Allen Lerserinnen und Lesern, Freunden und Kommentatoren, Frohen und Zuversichtlichen, Jeder und Jedem, der diese Seite besucht, einen lustigen Jahreswechsel und viel Schwung für das neue Jahr!

WEICHEN:stellen

Nähert sich der Zug einem großen Bahnhof, dann kann man bei der Einfahrt an manchen Orten noch einen schmalen hohen Turm sehen, wo „Stellwerk I“ oder „Stellwerk II“ draufsteht. Von dort blickte in früheren Zeiten aus einem Fenster der Weichensteller und stellte die Weichen für die ein- und ausfahrenden Züge. In den wenigsten Fällen werden heute die Weichen noch händisch gestellt, sie werden elektronisch gesteuert. Der Ausdruck „die Weichenstellen“ ist in der Alltagssprache fest verankert. Egal ob es sich um eine schulische Neuorientierung, um eine betriebliche Veränderung oder um eine persönliche Entscheidung geht: Die Weichen müssen immer wieder neu gestellt werden. Der Zeitpunkt und die Richtung für die Weichenstellung müssen bei der Eisenbahn passen. Bei einer zu spät oder falsch gestellter Weiche kann es zu einer Zugentgleisung oder zu einem Zusammenstoß mit einem anderem Zug kommen.

Ganz ähnlich verhält es sich bei der menschlichen Weichenstellung. Zögert man und stellt die Weichen für eine Lebensänderung zu spät, dann kann womöglich der nächste Lebensabschnitt nicht erreicht werden. Bei einer falsch gestellten Weiche kann es zu einem Crash kommen und die Folgen schmerzhaft sein.

Der Weichensteller.  

URBAN:IX

Beim zweitem Spaziergang hatte er die Möglichkeit, eine Wahrnehmung aus dem ersten Spaziergang zu überprüfen, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmte und nicht nur seinem Bewusstsein entsprungen war. Er konnte es nicht erwarten, an der Futterhütte vorbeizugehen, um zu überprüfen, ob seine Erinnerung an die Futterhütte nur ein Fantasiegebilde gewesen war, Schlussfolgerungen von Wahrnehmungen, die sich in vielen Jahren im Gehirn gesammelt und nichts mit seinem Spaziergang gemeinsam hatten. Urban freute sich, weil er erkannte, wie nahe er der Beantwortung, ob seine Beschreibungen der Wirklichkeit im wörtlichen sinne entsprachen, anhand der Futterhütte kam. In diese Erwartungen mischten sich die Windgeräusche eines Laubbaumes. Die Beantwortung der Frage, ob die Bilder aus dem Bewusstsein die Wirklichkeit waren, wurde immer verschwommener, bis keine Hoffnung mehr bestand, die Frage zu beantworten. Dies bedeutete den Anfang der urbanischen Hoffnungslosigkeit. 

Aus den Windgeräuschen war es ihm möglich, das Geräusch eines einzelnen Laubbaumes herauszuhören. Er hatte sich auf diesen einen Laubbaum konzentriert, der noch das Laub vom Herbst getragen hatte. Der belaubte Laubbaum war ein Außenseiter unter den anderen kahlen Laubbäumen. Der Laubbaum hatte an diesem Umstand selbst keine Schuld. Urban kann sich mit diesem Laubbaum identifizieren. 

Das Klicken beim Kraftwerk hat auch heute nichts von seiner Faszination auf ihn verloren. Er versucht über den Spaziergang hinaus in seinen Erinnerungen zurückzugehen, ob er diesem Geräusch schon einmal begegnet ist. Aus der starken Beziehung zu dem metallischen Klicken schließt Urban, dass es in ihm aufgrund eines angenehmen Erlebnisses in seinem Unterbewusstsein bereits vorhanden ist. Urban hört ein Wort und kann sofort sagen: Dies ist die Briefträgerin, das sind die Wohnungsnachbar, das ist die Drogistin, ohne die betreffende Person mit den Augen gesehen zu haben. Eine Stimme sagt einem alles über eine Person. Jedes Geräusch wird jemandem zugeordnet, zu ganz bestimmten Bewusstseinsbildern. Für das Klicken findet Urban keinen Gegenstand, dem er es hätte zuordnen können.

FAIR:verkehr

Zu Beginn dieses Sommers bereiteten die Anwohner der Saint-Julien-Straße  den Autofahrern eine Überraschung. An einem Wochenende wurde die Straße für den Autoverkehr gesperrt und das „Fairkehrtes Fest, blühende Straße„ von den Anrainern und vielen Besuchern gefeiert. Die Straße führt zum Salzburger Hauptbahnhof und ist stark befahren. Der Zebrastreifen und Teile der Fahrbahn wurden mit Rasen belegt. Auf diesen Rasenflächen haben sich die Menschen niedergelassen. “Schnapsen”, „Mensch ärgere dich nicht“ oder mit den Kindern Ball gespielt. Manche haben ihre Gitarre oder Ziehharmonika ausgepackt, andere ein Buch. Die aufgestellten Bierbänke waren reichlich besetzt, die Unabhängigen haben ihre eigenen Klappstühle mitgebracht. Die Wagemutigen sind oben ohne in den Liegestühlen gelegen. Es herrschte auf der Straße ein dichtes Gedränge, weil viele Zuwanderer mit der ganzen Familie, von der Oma bis zu den Kleinkindern  gekommen sind. Dazwischen mischten sich Radfahrer und Inlineskater. Musiziert wurde an mehreren Standorten. Versorgt wurden die Besucher mit türkischen und persischen Spezialitäten, mit Pizza und Kebab oder heimisch mit Weißwurst und Bier. Für Vegetarier gab es eine vegetarischen Gulaschsuppe. Nützliche Informationen konnte man sich bei der kath. Frauenbewegung, den Kinderfreunden, der Arbeiterkammer, dem Klimabündnis und bei den StadtBus holen. Bemalte Kartonautos bewegten sich auf vier Füßen, nicht mit vier Rädern vorwärts. Autoverkehrt.

ZUG:fahrt

Steht eine Bahnreise bevor, sitzt man geistig schon im Zugabteil, bevor man dort ist. Man macht sich Gedanken welchen Platz man bekommen wird und wer die übrigen Mitreisenden sein werden, besonders die unmittelbaren Nachbarn. Man hat keinen Blick für das Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz und in der Bahnhofshalle, weil man zu knapp auf  dem Bahnhofsgelände eintrifft und es sehr eilig hat den Zug zu erreichen. Einmal den neu gestalteten Bahnhofsvorplatz in Villach vor der Abfahrt zu genießen habe ich mir gegönnt. Der Platz, eigentlich sind es zwei Plätze, einer links und einer rechts der Bahnhofsstraße ist offen, luftig und leicht, sowie praktisch gestaltet. Nach dem Berufsverkehr ist eine Gruppe von Volksschülern, alle mit gelben Sicherheitswesten, unterwegs. Zu den umliegenden Geschäften eilen die ersten Vertreter, ein Monteur von Thyssen macht sich am Fahrstuhl zu schaffen. Beim Billa besorgen sich die Frauen die fehlenden Lebensmittel,  ein junger Schlosser holt die Jausenbrote und das Bier für seine Kollegen. Ständig überqueren Rad- und Zugtouristen den Vorplatz.  Bei den Cafétischen sitzen die ersten Raucher bei einem Cappuccino und einer Zigarette. Das Lieferauto von Ölz parkt rückwärts ein.

Das Zugabteil ist unterbesetzt, die meisten suchen nach einem  Fensterplatz oder einem Platz mit Fußfreiheit. Auf der anderen Seite von mir hat ein junger Bursche seinen Laptop am Ausziehtisch und neben sich eine Tasche mit der Aufschrift: Studieren in Innsbruck. Der Zug fährt pünktlich ab. Schmerzhafte Laute, Aufschreie,  kommen von einer Frau die einige Bänke vor mir sitzt. Sie hat einige Illustrierte neben sich liegen, blättert darin und beginnt mit sich selbst zu reden. Dabei wird sie lauter und beschuldigt jemanden sie betrogen und hintergangen zu haben. Es gibt kein Gegenüber. Dann sinkt sie zusammen und stimmt in ein Jammern ein. Beim  Schaffner  erkundigt sie sich nach dem Tunnel. Die meisten fühlen sich gestört, es ist eine angespannte Situation, im Grunde sind wir Mitreisenden hilflos, wissen mit der Situation nicht umzugehen. Die unmittelbaren Sitznachbarn befreien sich davon, dass sie den Platz wechseln.  Hoffentlich gibt es einen Lichtblick nach dem Tunnel. Tauerntunnel.